Erziehungsberatung und Familientherapie

In der traditionellen Erziehungsberatung, die in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Vorbild der amerikanischen "child-guidance-clinics" folgend, geschaffen wurde, befasste sich der Erziehungsberater vorwiegend mit der Diagnostik, Beratung oder Behandlung desjenigen Kindes einer Familie, das ihm von den Eltern, dem Kindergarten, der Schule, dem Jugendamt usw. vorgestellt wurde. Seine Maßnahmen konzentrierten sich meist ausschließlich auf dieses Kind. Diese Vorgehensweise (dem sog. "medizinischen Modell" folgend) führte in der Praxis etwa zu folgendem Vorgehen:
Familie Meier, die drei Kinder hat, stellt ihren ältesten Sohn Fritz vor, weil er in der Schule bei den Deutschdiktaten aus unerklärlichen Gründen versage. Die Lehrer und Eltem sind ganz ratlos. Fritz ist insgesamt intelligent genug, er scheint aus irgendwelchen Ängsten heraus zu versagen. Der Erziehungsberater erhebt nun als erstes mit der Mutter eine ausführliche biographische Anamnese über Fritz. Anschließend wird Fritz testpsychologischen und medizinischen Untersuchungsverfahren unterworfen.
Schließlich leitet der Berater aus all diesen gesammelten Informationen eine Diagnose für Fritz ab, die er der Mutter (den Vater sah er oft gar nicht) mehr oder minder deutlich mitteilt und aus der er Ratschläge für Fritzens Erziehung und weitere Behandlung ableitet. So sagt er beispielsweise der Mutter, dass sie Fritz immer wieder entmutigt durch zuviel Kritik und Ängstlichkeit. Hat er den Eindruck gewonnen, daß Fritz bereits erheblicher seelisch gestört ist, setzt er ihn auf seine Warteliste für Kinderpsychotherapie. Vielleicht
verordnet er Fritz auch ein Rechtschreibtraining.
Eine Reihe von Einflüssen hat dazu beigetragen, daß man von dieser methodischen Denk- und Vorgehensweise seit längerem abgegangen ist und eine auf die gesamte Familie bezogene Sichtweise entwickelte. Zu diesen Einflüssen gehören beispielsweise die sog. normative Krise der modernen Familie, die stärker sozialpsychiatrisch orientierte amerikanische Psychiatrie, neue Theorien und Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychoseforschung und Kinderpsychotherapie. Man kann diese Einflüsse eingebettet sehen in ein allgemein ansteigendes Bewußtsein dafür, die Komplexität menschlichen und gesellschaftlichen Lebens nicht allein in einfachen Ursache-Folge~Zusammenhängen zu erfassen, sondern in Wechselwirkungen und Systemzusammen- hängen. In der traditionellen Praxis stellte der Erziehungsberater nicht selten fest, daß Fritz nach einer teils jahrelangen Kindertherapie zwar geheilt aus der Therapie entlassen werden konnte, nach Rückkehr in seine unveränderte Familie aber rückfällig wurde. War dies glücklicherweise nicht der Fall, so erkrankte aber plötzlich Fritzens Schwester gerade dann, als es mit Fritz besser wurde. Oder die Eltern brachen die Kindertherapie ab, weil sich angeblich nichts bessere, obwohl Fritz nach Meinung des Erziehungsberaters durchaus Fortschritte machte. Der Erziehungsberater hatte oft das Gefühl, mit seiner Behandlung Fritzens gegen die übrige Familie anzukämpfen, ein Kampf, den er häufig verlieren mußte, weil die Familie sozusagen stärker war als er. Also schien es plausibel, Fritzens ganze Familie von Anfang an in die Behandlung aktiv mit einzubeziehen. Der Erziehungsberater wußte ja schon lange, daß seelische Probleme bei Kindern regelmäßig in innerfamiliären Problemen wurzeln. Das war nicht neu. Neu war aber seine daraus abgeleitete Erkenntnis, sich von Anfang an möglichst ausgeglichen mit allen Familienmitgliedern, nicht nur mit Fritz allein, abzugeben, sich um alle gleichermaßen zu kümmern. Nicht mehr Fritz allein, die ganze Familie wurde damit der "Patient". Familientherapie hat deswegen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapien nicht überflüssig gemacht. Vielmehr kommen diese aufwendigeren Langzeit-Therapie dann zur Anwendung, wenn Familientherapie allein nicht zum Erfolg führen kann. Überhaupt stellen sich Indikationen für Einzel- oder Paartherapien einzelner Familienmitglieder bzw. familiärer Subsysteme im Verlauf einer Familientherapie erst heraus. Sie werden sozusagen nicht wie früher vom Therapeuten allein, sondern von der ganzen Familie gemeinsam gefunden, was ihre Effektivität wesentlich steigert.

Diese Vorgehensweise hat sich in bundesdeutschen Erziehungs- und Familienberatungsstellen weitgehend durchgesetzt und als kostensparend und effektiv erwiesen. In der Praxis niedergelassener Psychotherapeuten ist Familientherapie dagegen heute leider (noch?) nicht zu finden. Um zu unserem Beispiel mit Fritz zurückzukonren, erzählt die Familie z.B., daß Fritz in der Schille aus Angst vor der Deutschlehrerin versagt. Eine ähnliche Angst hatte er bereits, als er noch in den Kindergarten ging. Die Familie erkennt im Gespräch, daß Fritz Angst vor dem Tädel seiner Mutter hat und diese Angst auf außerfamiliäre Frauen Überträgt. Fritzens Mutter, Frau Meier, findet heraus, dass sie in ihrer Beziehung.zu Fritz eine ähnliche Unzufriedenheit erlebt, wie sie sie ihrem Mann, Herrn Meier, gegenüber hegt. Sie hatte nur geglaubt, darüber langst hinweg zu sein und nur noch mit Fritz unzufrieden zu sein, nicht mehr mit ihrem Mann. Von letzterem fühlt sie sich seit langer Zeit vernachlässigt, hatte dies aber verdrängt, um sich die Vorstellung von einer glücklichen Ehe zu erhalten. Sie streitet ja nicht mit ihrem Mann, sondern "nur" mit Fritz.
Auch Herr Meier packt einen alten Vorwurf an seine Ehefrau aus: Auch er hatte ganz "vergessen", dass er manche Unzufriedenheit über seine Frau hegt. Dies wurzelt noch darin, daß er seine Frau entgegen dem ausdrücklichen Rat seiner Mutter heiratete und bis heute das Gefühl nicht loswerden konnte, damit seine hochgeschätzte Mutter verletzt zu haben. Diese Mutter, Fritzens Oma väterlicherseits, wohnt mit der Familie im selben Haus und liegt mit Frau Meier in einem jahrelangen täglichen Kleinkrieg, bei dem es auch immer wieder um die Erziehung von Fritz geht. Fritz wird dabei von der Oma und indirekter auch von seinem Vater gegen seine Mutter beeinflusst.

Der Familie wird in einigen Familiengesprächen klarer, dass Fritzens Angst vor der Lehrerin offenbar eine Fortsetzung der-
jenigen Angst ist, die Herr Meier vor seiner eigenen Mutter bis heute hegt: er hat es bis jetzt nicht geschafft, sich von seiner
Mutter zu lösen und zu seiner Ehefrau zu bekennen. Andererseits scheint Frau Meier ihn auch nie vor die Alternative "deine Frau
oder deine Mutter" gestellt und ihn damit ihrerseits darüberer im Unklaren gelassen zu haben, ob sie ihren
Mann auch wirklich um
seiner selbst willen haben will. Dies scheint noch damit in Zusammenhang zu stehen, dass Frau Meier ab ihrem dritten Lebens-
jahr ohne Vater aufwachsen musste und von daher verunsichert ist. Frau Meier hat zu ihrem zweitgeborenen Kind,
Beate, eine wesentlich bessere Beziehung als zu Fritz, was zu heftigen Rivalitäten zwischen den Geschwistern führt. Auch diese Streitereien auf der Ebene der Kinder werden im Zusammenhang mit den elterlichen Problemen gesehen. So zeigt sich also, daß Fritzens Schulproblem zusammenhängt mit einem Beziehungsproblem seiner Eltern, dieses wieder mit Beziehungsproblemen beider Eltern aus ihren Herkunftsfamilien. Drei Generationen sind also beteiligt, wenn Fritz bei den Deutschdiktaten versagt.

Die Einsicht in diese Zusammenhänge bildet die Familiendiagnose. Im weiteren Therapieverluf steht anschließend die gemeinsame Suche nach Lösungen im Vordergrund. Darüber aber an anderer Stelle.