Hans-Reinhard Schmidt
Mein Kind hat ADHS? Das gibt´s
doch nicht!
(Vorbemerkung: Der folgende Beitrag ist eine Kurzform des Buches:
Ich lerne wie ein Zombie. Plädoyer für das Abschaffen von ADHS,
das vom Autor im Centaurus-Verlag erschienen ist).
Eltern unruhiger, unaufmerksamer oder besonders
lebhafter Kinder hören heute immer öfter Ratschläge wie:
"
Lass ihn doch mal auf ADHS testen." Oder: "Meiner war
auch so, aber seit wir endlich die Diagnose ADHS haben und er
Ritalin nimmt, ist es viel besser in der Schule mit ihm geworden."
Oder: "Ich kann einen Arzt empfehlen, der bei ADHS kompetent
ist und Ritalin verschreibt. Geh´ doch auch mal zu ihm (aber
rasch, denn er hat sehr lange Wartezeiten!)".
ADHS, das Kürzel für "Aufmerksamkeits-Defizitstörung mit
(oder ohne) Hyperaktivität", ist mittlerweile zur am häufigsten
gestellten kinderpsychiatrischen Diagnose geworden. In den USA
stieg die Zahl der als angeblich behandlungsbedürftig
eingestuften Kinder von 1 Million im Jahr 1990 auf über 10
Millionen Kinder im Jahr 2000. In Deutschland rechnet man derzeit
mit bis zu 500 000 angeblich behandlungsbedürftigen Kindern.
Kein anderer Wirkstoff verzeichnet derartige Zuwachsraten wie
Methylphenidat (Handelsnamen z.B. Ritalin oder Medikinet).
Weltweit nehmen derzeit jeden Tag ca. 10 Millionen Kinder solche
auf das meist noch in Entwicklung begriffene kindliche Gehirn
wirkende Psychopharmaka ein.
Was hat es aber bei kritischer Betrachtung mit diesem Phänomen
"ADHS" wirklich auf sich? Handelt es sich tatsächlich
um eine medizinisch-neuropsychologische Krankheit, um eine
genetisch bedingte, vererbbare, ursächlich erziehungsunabhängige
und unheilbare Stoffwechselstörung des Gehirns, die mit
Psychopharmaka behandelt werden muss, wie es bestürzte Eltern in
der Presse und vielerlei wohlfeilen Elternratgebern lesen, wie es
in einschlägigen Internetforen behauptet und von angeblich
"Betroffenen" und einigen Fachleuten mit Nachdruck
verbreitet wird? Was sollten Eltern wissen, wenn sie mit einem
solchen "Verdacht auf ADHS" bei ihrem Kind konfrontiert
werden? Es geht dabei um die folgenden Fragen:
Gibt es ADHS überhaupt?
Ist ADHS eine Hirnfunktionsstörung?
Ist ADHS genetisch bedingt?
Ist ADHS erziehungsunabhängig?
Ist ADHS vererbbar?
Ist ADHS unheilbar?
Wie wirkt "Ritalin"?
Gibt es ADHS überhaupt?
Wussten Sie, dass es "Ritalin" schon gab, bevor "ADHS"
dazu erfunden wurde? Es begann alles damit, dass der Pharma-Chemiker
L. Panizzon im Jahre 1944 rein zufällig Methylphenidat entdeckte,
wovon seine Frau Rita naschte und die leistungssteigernde Wirkung
lobte, weswegen der Stoff dann auch "Ritalin" getauft
wurde. Man hatte also nicht ein Medikament zur Therapie einer
bereits existierenden Krankheit gesucht oder gefunden, sondern
zufällig einen Wirkstoff (ein Amphetaminderivat), von dem man
noch gar nicht recht wusste, wofür er zu gebrauchen sein könnte.
K. Conners und L. Eisenberg gaben dann später einen verwandten
Wirkstoff, Dexedrine, versuchsweise an zwei Schulklassen mit
farbigen Unterschichtkindern in Baltimore, USA. Und siehe da: das
ansonsten nervige und rüpelhafte Verhalten der Schüler "normalisierte"
sich auffallend. Es war ein Mittel gefunden, das Verhalten der
Kinder an Ghetto-Schulen chemisch zu beeinflussen. Man bemerke:
Es lagen nicht irgendwelche medizinischen Diagnosen bei den
Kindern zugrunde. Es waren einfach verhaltensschwierige Ghetto-Kids,
deren Sozialverhalten chemisch angepasst werden sollte, anstatt
an ihren chronisch traumatisierenden psychosozialen Verhältnissen
sozialpolitisch etwas zu verbessern.
Aber damit hatte man immer noch keine richtige Krankheit gefunden,
gegen die das Mittel helfen sollte. Denn dass man
verhaltensschwierige und psychosozial benachteiligte Kinder mit
einem Psychopharmakon einfach nur chemisch ruhigstellt, hätte
natürlich niemand so ohne weiteres akzeptieren können. Das wäre
ein Skandal gewesen. Also musste man eine offizielle medizinische
Krankheit finden, denn anders ließ sich das Mittel auch nicht
erfolgreich vermarkten.
Zunächst verfiel man auf die Idee, dass Kinder eben krank seien,
wenn das Mittel bei ihnen wirkte, wenn nicht, waren sie einfach
gesund. Man nannte die Krankheit zunächst "funktionelle
Verhaltensstörung", was die amerikanische Gesundheitsbehörde
FDA aber bald untersagte, weil es zu unspezifisch sei. Prompt
wurde das Leiden umbenannt in "minimale zerebrale
Dysfunktion (MCD)", was sich aber wissenschaftlich auch als
unbrauchbares Konstrukt erwies (z.B. Schmidt, M.H. 1992).
Daraufhin geisterte das Syndrom "hyperkinetische Störung"
durch Kindergärten und Schulen, bis der amerikanische
Psychiatrieverband endlich das Kürzel "ADHD" erfand (nach
Blech 2003).
Edward Shorter fasst dies in seiner "Geschichte der
Psychiatrie" sehr treffend so zusammen:
"Betrachten wir zum Beispiel die Probleme heranwachsender
Jugendlicher. Lange Zeit waren Schwärmereien wie die eines Tom
Sawyer als etwas in diesem Alter völlig Natürliches gewertet
worden. In den sechziger Jahren wurden sie jedoch plötzlich als
krankhaft eingestuft, und man schoss gleich mit schwerem Kaliber.
Plötzlich hieß es in der Terminologie der fünfziger und
sechziger Jahre, dass solche Verhaltensweisen zumindest durch »geringfügige
Hirnfunktionsstörungen« verursacht würden. Mit anderen Worten:
Tom Sawyer hatte einen Dachschaden. Diese Diagnose wurde zwar später
als völlig absurd wieder verworfen, doch dafür begann man sich
auf Hyperaktivität und Konzentrationsschwäche zu stürzen, weil
es manchmal anstrengend ist, Jungen im Klassenzimmer zur Ruhe zu
bringen. Ohne auch nur einen Blick auf die Lehrerpsyche zu werfen,
griffen Erziehungswissenschaftler dankbar nach dieser neuen
Pathologisierung der Knabenpsyche. 1968 wurde die »hyperkinetische
Reaktion«, die sich angeblich während der Kindheit oder
Adoleszenz durch Ruhelosigkeit und Unaufmerksamkeit manifestiert,
zum offiziellen Fachbegriff: 1980 erfand man dafür die
Formulierung hyperaktive Aufmerksamkeitsschwäche (zit.
Shorter 2003)..
Eines ist natürlich unstrittig: Es gibt übermäßig aktive,
unruhige, impulsive und unkonzentrierte Kinder und Erwachsene.
Die grundlegende Frage ist allerdings, ob diese Menschen an einer
einheitlichen und spezifischen organischen oder psychiatrischen
Krankheit "ADHS" leiden oder ob ihre Auffälligkeiten
nicht doch sehr unspezifisch sind, d.h. viele unterschiedliche
Ursachen haben können. Es stellt sich die Frage nach der
wissenschaftlich belegbaren Existenz einer von anderen Störungen
abgrenzbaren und spezifischen Krankheit namens ADHS.
Die derzeit herrschende Lehre, ADHS sei eine spezifische
neuropsychologische Krankheit, hält einer genaueren
wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Die Kernsymptome
Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität sind nicht
spezifisch für ADHS. Andere sog. komorbide psychiatrische
Diagnosen und Lernprobleme wie Depressionen, psychoreaktive
Verhaltensstörungen und Ängste überschneiden sich in der
Symptomatik mindestens zu 60 Prozent mit ADHS (Furman 2006).
Der bekannte amerikanische Psychologe Armstrong meint hierzu:
"Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass sog. ADHS-Kinder je
nach Alltagskontext keine störungstypischen Symptome zeigen. Zunächst
einmal wirken 80 % von ihnen nicht als ADHSler, wenn sie in der
Arztpraxis sind. Auch scheinen sie sich in anderen nicht-familiären
Zusammenhängen, in denen es einen direkten Kontakt zu einem
Erwachsenen gibt (und dies trifft besonders dann zu, wenn dieser
Erwachsene zufällig ihr Vater ist), ganz normal zu verhalten.
Weiterhin sind sie in Schulklassen von den sog. normalen Kindern
nicht zu unterscheiden, wenn sie ihre Lernaktivitäten selbst wählen
und steuern dürfen. Zum Dritten scheinen sie ganz normal zu
funktionieren, wenn sie für besondere Handlungen, die dazu
dienen sollen, Aufmerksamkeit zu zeigen, belohnt werden. Viertens,
und das ist besonders wichtig, verhalten sich sog. ADHS-Kinder
ganz normal, wenn sie mit Dingen beschäftigt sind, die sie
interessieren, die in gewisser Weise neu für sie sind und die
einen gewissen Anreiz auf sie ausüben. Und schließlich werden
etwa 70 % dieser Kinder erwachsen und stellen dann fest, dass
ADHS augenscheinlich einfach verschwunden ist (zit.
Armstrong 2002).
Es gibt bekanntlich zahlreiche Störungsbilder, die eine
identische oder sehr ähnliche Symptomatik zeigen können wie ADS
bzw. ADHS und die eigentlich differentialdiagnostisch
ausgeschlossen werden müssen:
"Autistische Störungen - Hospitalismus - Bindungsstörung -
Reaktionen auf schwere Belastungen - Anpassungsstörungen -
Schlafstörungen - stereotype Bewegungsstörung - Störungen des
Sozialverhaltens - auf den familiären Rahmen beschränkte Störung
des Sozialverhaltens - Störung des Sozialverhaltens bei
fehlenden sozialen Bindungen - Störung des Sozialverhaltens bei
vorhandenen sozialen Bindungen - Störung des Sozialverhaltens
mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten - Angststörungen -
Depression - Ticstörungen - Substanzabusus (Alkohol, Drogen,
Koffein, Medikamente) - hebephrene Schizophrenie - Manie -
emotional instabile Persönlichkeitsstörung - Borderline-Persönlichkeitsstörung
- Anorexia nervosa - Leserechtschreibstörung/Legasthenie -
Rechenstörung Zentrale Hörstörung/auditive
Wahrnehmungsstörung - Störung der visuellen Wahrnehmung -
kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten - Hochbegabung -
Lernbehinderung - Geistige Behinderung - Frühkindliche Hirnschädigungen
- Leichte kognitive Störung vor, während oder nach einer
Vielzahl zerebraler und systemischer Infektionen und körperlicher
Erkrankungen (einschließlich HIV) - Chorea minor (Sydenham) -
Enzephalitis (akut oder subakut, z. B. subakute sklerosierende
Panenzephalitis) -Enzephalomyelitis disseminata (Multiple
Sklerose ) - Organische Persönlichkeitsstörung nach lokaler
Hirnschädigung - Postenzephalitisches Syndrom - Organisches
Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma - Sehstörungen - Hörstörungen
- Allergien (z. B. Neurodermitis) - Epilepsie (Absencen, komplex-partielle
Anfälle) - Hyperthyreose - andere Stoffwechselerkrankungen (Diabetes
mellitus, Phenylketonurie, usw.) - Chromosomale Störungen wie z.B.
Fragiles X-Syndrom, Klinefelter-Syndrom, usw.) - neurotoxische
Substanzen, z. B. Bleiintoxikation Zink-, Eisen-, Magnesium- oder
Vitaminmangel - Medikamentöse Nebenwirkungen (z. B.
Phenobarbital, Carbamazepin, Fluoxetin, andere antriebssteigernde
Antidepressiva) - Ehekonflikt der Eltern - Krankheitsfall in der
Familie - Alkoholproblem oder andere psychische Störung eines
oder beider Elternteile - Misshandlung - sexueller Missbrauch -
Beziehungsprobleme zu Erziehern/Lehrern und/oder Gleichaltrigen"
(zit. Spitczok v. Brisinski 2002).
Ob es ADHS als eigenständiges Syndrom oder als eigenständige
Krankheit gibt, lässt sich eigentlich nur herausfinden, wenn man
Vergleiche mit anderen Störungen oder Krankheiten anstellt. Man
muss also "ADHSler" nicht mit angeblichen
Normalpersonen, sondern mit anderen Störungen oder Krankheiten
vergleichen (differentielle Validität). Erstaunlicherweise (oder
auch nicht) ist das bisher fast gar nicht geschehen. Den
offenkundig großen Überschneidungsgrad mit vielen anderen Störungsbildern
betrachtet man lieber als sog. Komorbiditäten, obwohl der
Schluss naheläge, dass es sich um ganz unterschiedliche Störungen
mit ähnlichem oder gleichem Symptomenbild handeln könnte. Oder
dass beliebig viele angeblich unterschiedliche Krankheiten mit
allerdings gleicher Symptomatik erfunden werden. Die Unsitte hat
inzwischen zu solchen Absurditäten geführt, dass derzeit kaum
noch jemand eine Lese-Rechtschreibschwäche, eine feinmotorische
Entwicklungsstörung oder eine psychoreaktive Verhaltensstörung
allein hat nein, ADHS ist als allumfassende Grundstörung
(wie nach Art einer kostenlosen Dreingabe) angeblich immer mit
dabei. "Ohne" geht gar nicht mehr. Eine verunsicherte
Mutter drückt dies so aus: "Nicht nur, dass unser Sohn eine
Wahrnehmungsstörung hat, jetzt hat er auch noch ADHS! Ein Unglück
kommt wirklich selten allein, aber warum gerade bei uns?"
Dass die Unruhe und/oder Aufmerksamkeitsproblematik des Jungen
die Folge seiner lange unbehandelten Wahrnehmungsstörung sein könnte,
wird übersehen.
Banaschewski u.a. stellen denn auch fest, dass die bisherige
Forschung genau diese Frage, ob es ADHS als von anderen Syndromen
unterscheidbare spezifische Störung überhaupt gibt, im Unklaren
lasse. Aus ihrer Forschungsübersicht bisheriger Vergleiche von
ADHS mit anderen neuropsychologischen, neurobiologischen und
genetischen Korrelaten ziehen die Autoren den ernüchternden
Schluss, dass es bisher keine klare ADHS-Spezifität gibt (Banaschewski
2005).
Besonders strittig ist auch nach wie vor die Frage, ob es bei
ADHS wirklich selektive Aufmerksamkeitsstörungen gibt. Huang-Pollock
u. a. sind dieser alten Grundfrage noch einmal nachgegangen und
haben Aufmerksamkeitsstörungen bei ADHS-diagnostizierten Kindern
des primär unaufmerksamen Typs sowie bei solchen des
kombinierten (hyperaktiven und unaufmerksamen) Typs gesucht - und
keine gefunden! In keiner der beiden ADHS-Untergruppen fanden sie
selektive Aufmerksamkeitsstörungen. Sie schließen daraus, dass
wahrscheinlich die meisten ADHS-diagnostizierten Kinder eine völlig
normale Aufmerksamkeit haben. Dass es bei ADHS einen Subtyp der
primär aufmerksamkeitsgestörten Kinder überhaupt gibt, ziehen
sie denn auch in Zweifel (Huang-Pollock 2005). Auch der führende
amerikanische ADHS-Fachmann Barkley sagt hierzu: "Wir fanden,
dass sich die ADHS-Kinder Dingen, die sie in ihrer momentanen
Situation vorfinden, durchaus aufmerksam zuwenden können, so
dass es wirklich kein Aufmerksamkeitsproblem bei ihnen ist.
Worauf sie sich aber nicht konzentrieren können, das ist das,
was danach kommt, was jeweils als nächstes getan werden muss, um
auf die jeweilige Zukunft des momentanen Verhaltens vorbereitet
zu sein. Sie halten nicht inne, um an die Folgen dessen zu denken,
was momentan abläuft. Sie haben also kein Aufmerksamkeitsproblem;
sie haben stattdessen ein Problem mit ihren Intentionen" (zit.
Barkley 2001). Es ist also sehr fraglich, ob es bei ADHS
die Aufmerksamkeitsstörung, immerhin eines der angeblichen
Kernsymptome, überhaupt gibt.
In Reaktion auf die sog. Internationale Konsenserklärung zu ADHS,
die Barkley mit 74 weiteren Fachleuten 2002 veröffentlichte (Barkley
2002), stellte Timimi gemeinsam mit 32 weiteren Fachleuten in
einer Kritik dieser Konsenserklärung fest,
1. dass der Forschungsstand nicht die Behauptung stützt, bei
ADHS-Kindern handele es sich um eine homogene Gruppe mit einer
gemeinsamen und spezifischen neurobiologischen Störung. Es gibt
keine kognitiven, metabolischen oder neurologischen Marker für
ADHS, weshalb es auch keinen medizinischen Test für die Diagnose
gibt. Es gibt bereits seit 30 Jahren offenkundige Schwierigkeiten,
die Störung überhaupt eindeutig zu definieren;
2. dass trotz der Versuche, die Diagnosekriterien zu
standardisieren, erhebliche Unterschiede zwischen Diagnostikern
nicht nur verschiedener Nationen, sondern sogar ein und derselben
Nation bestehen. In den USA schwankt zum Beispiel die Zahl der
Diagnosen innerhalb eines Staates von Gemeinde zu Gemeinde um den
Faktor 10;
3. dass drei Viertel aller mit ADHS diagnostizierten Kinder auch
die Kriterien für andere psychiatrische Störungen (Verhaltensstörungen,
Angststörungen, Depressionen etc.) erfüllen. Solch hohe
Komorbiditäten legen aber den Schluss nahe, dass sich das ADHS-Konstrukt
zur Erklärung des klinischen Alltags gar nicht eigne;
4. dass nach nunmehr 25jähriger bildgebender Forschung immer
noch die simple Studie fehlt, in der eine Gruppe unbehandelter
ADHSler mit einer Gruppe behandelter verglichen wird. Die
bisherigen bildgebenden Studien haben unspezifische und
inkonsistente Ergebnisse erbracht, wobei die Untersuchungsgruppen
klein waren und in keinem Falle klinisch abnormale Gehirne
gefunden wurden (ganz zu schweigen von ADHS-spezifisch abnormalen).
Tierstudien lassen zudem vermuten, dass die in einigen Studien
bei Kindern gefundenen Hirnbesonderheiten eine Folge ihrer
Medikamentierung sein können;
5. dass sogar ein Regierungsbericht der USA zu ADHS feststellte,
dass es keine überzeugenden Belege dafür gebe, dass ADHS eine
biochemische Störung sei;
6. dass die Erforschung möglicher Umweltfaktoren als Ursache für
ADHS bisher weitestgehend unterblieben ist, obwohl es vielfältige
Erfahrungen gibt, dass psychosoziale Faktoren wie Traumen oder
Missbrauch ursächlich sein können;
7. dass Forschungsergebnisse zur Genetik und Vererbung
Interpretationssache sind. Die Genetik von ADHS ist nicht
unterscheidbar von Verhaltensstörungen und anderen
externalisierenden Störungen, und auch die Vererbung ist nicht
spezifisch, falls es eine solche überhaupt gibt;
8. dass die Menge der an Kinder gegebenen Psychopharmaka in den
USA besorgniserregend ist. Ca. 10 Prozent aller Kinder im Alter
von 6 bis 14 Jahren bekommen in den USA Psychopharmaka, Auch der
Psychopharmakaverbrauch bei Vorschulkindern im Alter von 2 bis 4
Jahren ist stark angestiegen. Eine Studie in Virginia habe in
zwei Schuldistrikten bei 17 Prozent aller weißen Grundschüler
Psychopharmaka-Konsum festgestellt. Aber die Autoren der
internationalen Konsenserklärung um Barkley glauben dennoch,
dass derzeit leider nur weniger als die Hälfte aller Kinder mit
ADHS angemessen medikamentös behandelt würden;
9. dass Psychostimulanzien keine ADHS-spezifische Behandlung
darstellen, sondern auch bei normalen Kindern und ganz unabhängig
von ihrer Diagnose wirken;
10. dass Kurzzeiteffekte inkonsistent, Nebenwirkungen aber häufig
seien, und dass Langzeiteffekte über 12 Wochen hinaus nicht
belegt werden (Timimi 2004).
Ist ADHS eine Hirnfunktionsstörung?
Es gibt keinen eindeutigen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass
ADHS eine krankhafte Hirnfunktionsstörung ist. Man hat zwar bei
Kindern mit der Diagnose "ADHS" vielerlei Veränderungen
im Gehirn gefunden. Aber die Forscher bewegten sich bislang
vergleichsweise so, als wenn sie die Gehirne von Verliebten
untersuchten, alle möglichen erstaunlichen Veränderungen
feststellten und dann als Ursache dieser Veränderungen eine
Krankheit namens "hirnorganisch bedingter Liebeswahn"
festmachen würden.
Bei keiner der bisher bei ADHS-Diagnostizierten gefundenen Veränderungen
ist wissenschaftlich belegt, dass sie ADHS verursachen oder dass
sie wirklich spezifisch für ADHS sind und nicht auch bei vielen
anderen Störungen oder Verhaltensprägungen oder ganz normalen
Charaktereigenschaften vorkommen. All diese Hirnveränderungen können
nämlich auch lediglich Niederschläge von lebensgeschichtlichen
Erfahrungen bzw. psychosozialen Umwelteinflüssen sein. Sie müssen
keineswegs "angeboren", sondern sie können genauso gut
durch Lebenserfahrungen erworben sein.
Das menschliche Gehirn ist viel plastischer und in seiner
Entwicklung von Erfahrung viel abhängiger, als die ADHS-Forschung
bisher zur Kenntnis nimmt. Die moderne Hirnforschung liefert
immer mehr Belege dafür, dass Erfahrungen und Umwelteinflüsse
die Hirnstrukturen und funktionen formen. So fand Braun im
Tierversuch, dass die frühe Trennung der Jungtiere von ihren
Eltern zur vermehrten Bildung synaptischer Verschaltungen (spines)
im Gehirn führte, wie man sie z.B. auch bei Schizophrenen oder
beim Fragilen X-Syndrom fand. Auch die dopaminerge D1-Rezeptorendichte
war deutlich erhöht. Als Folge dieser Hirnveränderungen zeigten
die Tiere vermehrt hyperaktives Verhalten (Braun 2001).
Auch Hüther hat sich intensiv mit dem Einfluss früher
Entwicklungsbedingungen auf die Ausreifung einzelner
Transmittersysteme (auch des dopaminergen Systems) und neuronaler
Verschaltungsmuster im Gehirn befasst: Er hat die bisher
herrschende Vorstellung, ADHS sei ein Dopaminmangel im Gehirn, in
Frage gestellt:
"Auf diesem Gebiet sind in den letzten 10 Jahren
entscheidende, neue Erkenntnisse gewonnen worden, insbesondere über
die Bedeutung sicherer emotionaler Bindungen, über die
Auswirkungen von Angst und Stress, über die strukturelle
Verankerung früher Erfahrungen. Im Licht dieser neuen
Erkenntnisse erscheinen die bisher vertretenen Auffassungen über
die neurobiologischen Ursachen von ADHS, über die akuten
Wirkungen und die langfristigen Folgen der
psychopharmakologischen Behandlung von "ADHS-Kindern"
mit Methylphenidat als veraltete und mit dem gegenwärtigen
Erkenntnisstand nicht vereinbare Modellvorstellungen. Das alte
Modell macht für die ADHS-Symptomatik ein genetisch bedingtes
"Dopamindefizit" (unzureichende Ausbildung oder Aktivität
des dopaminergen Systems) verantwortlich. Diese bisherigen
Vorstellungen müssen meiner Ansicht nach durch ein anderes,
besser mit dem inzwischen erreichten Erkenntnisstand vereinbares
Modell ersetzt werden" (zit. Hüther, persönliche
Mitteilung 2002). Deprivierende frühe Erfahrungen bei von Hause
aus reizoffenen Kindern führen seiner Ansicht nach stattdessen
zu einer Stimulation des Wachstums des dopaminergen Systems. Es
wird dadurch stärker und intensiver ausgebildet, als das
normalerweise der Fall ist.
Nebenbei bemerkt: Hirnbesonderheiten müssen keineswegs
irgendwelchen Krankheitswert haben. Wenn man zum Beispiel die
Hirne von langjährigen Londoner Taxifahrern nach ihrem Tode
untersucht, findet man veränderte Hirnstrukturen. Waren diese
Fahrer also krank? Nein, denn die Hirnveränderungen haben sich
bei ihnen im Laufe vieler Jahre Fahrpraxis als Anpassung an die
chaotische Londoner City herausgebildet.
Dass ADHS eine Hirnfunktionsstörung sein soll, umschreibt also
nur eine bisher unbewiesene und derzeit beliebte
Forschungshypothese, keineswegs eine wissenschaftliche Tatsache.
Ist "ADHS" genetisch bedingt?
Die Mehrzahl aller bisher durchgeführten Genstudien zu ADHS
blieb ergebnislos. Die Forschung hat zwar bei 4 Genen gewisse
genetische Beteiligungen am ADHS-Verhalten errechnet. Aber diese
Beteiligungen sind einerseits schwach, andererseits unspezifisch.
Der Zusammenhang dieser Gene mit dem Verhalten ist zunächst
einmal rein rechnerisch-statistisch und ohne jeden praktischen
Nutzen. Die in einer aberwitzigen Suche nach Krankheitsgenen
bisher erbrachten Forschungsergebnisse über Zusammenhänge von
Genen und Eigenschaften entpuppen sich bei genauer Betrachtung
allesamt als klinisch bedeutungslose Hervorbringungen der
Statistik (Blech 2010). Auf keinen Fall gibt es so etwas wie ein
spezifisches ADHS-Gen.
Bobb u.a. haben alle über 100 Forschungsstudien zur Genetik der
ADHS der Jahre 1991-2004 kritisch gesichtet, darunter 3
genomweite Assoziationsstudien mit 94 Polymorphismen und 33
Kandidatengenen. Sie finden, dass ADHS eine sehr "komplexe"
Störung mit vielfältiger, aber jeweils schwacher genetischer
Beteiligung sei, und fassen dann zusammen, dass es nur für vier
Gene einigermaßen gesicherte, aber nur bescheidene Beteiligungen
gebe. 36 % aller Studien konnten Zusammenhänge finden, 47 % aber
nicht, die restlichen 17 % zeigten nur "Trends", wobei
man diese 17 % statistisch nicht gesicherten Studien durchaus zu
den erfolglosen 47 % addieren darf. Damit sind dann 64 % aller
Genstudien zu ADHS in 13 Forschungsjahren ergebnislos geblieben.
Aber auch bei den "positiven" Ergebnissen besteht nach
wie vor das Problem eines nur bescheidenen bzw. vergleichsweise
schwachen, rein rechnerischen Zusammenhangs dieser Gene mit ADHS-Verhalten,
betonen die Autoren (Bobb u.a. 2004). Über die Ursache von ADHS
sagen solche Ergebnisse angesichts der ungeklärten Einflüsse
der Epigenetik rein gar nichts aus. Sie können genauso gut die
Folge von Lebenseinflüssen (Erfahrungen) sein (Blech 2010)..
Selbst die Stellungnahme der Bundesärztekammer zu ADHS vom
August 2005 stellt hierzu fest:
"Allerdings sind die genannten genetischen Polymorphismen in
der Bevölkerung weit verbreitet, sie erhöhen das Risiko für
ADHS jeweils nur gering (1.2 bis 1.9-fach) und erklären jeweils
weniger als 5% der Verhaltensvarianz. Daraus ist abzuleiten, dass
das Auftreten einer ADHS nicht auf die Veränderung eines
einzelnen Gens zurückzuführen ist. Vielmehr ist im Sinne einer
multifaktoriellen Genese an Wechselwirkungen verschiedener Gene
und/oder die Wechselwirkungen zwischen genetischen und exogenen
Faktoren (z. B. mütterliches Rauchen) zu denken. Letztere sind
bislang noch wenig erforscht" (Bundesärztekammer 2005). Der
letzte, kurze und fast schamhafte Satz ist besonders
eindrucksvoll, wird hier doch der umweltbezogene Faktor an der
Entstehung von ADHS immerhin in Erwägung gezogen und seine
bisher mangelhafte Berücksichtigung betont (Stichwort:
Epigenetik).
"Erblichkeit" menschlichen Verhaltens lässt sich
derzeit sowieso nie absolut ermitteln. Man kann sie immer nur schätzen,
wobei die Ergebnisse stichprobenabhängig ganz unterschiedlich
ausfallen können, und zwar abhängig von der jeweiligen
Variation der beobachteten Merkmale in der gerade untersuchten
Stichprobe. In der berühmten sog. "Minnesota-Zwillingsstudie",
in der z.B. eine angebliche Erblichkeit des Intelligenzquotienten
zu 70 Prozent ermittelt wurde, gab es eine nur geringe Variation
der Umweltbedingungen, unter denen die untersuchten, getrennt
aufgewachsenen Zwillinge aufgewachsen waren, so dass der Schätzwert
für "Erblichkeit" hoch ausfallen musste. Wenn der
Milieufaktor stark variiert hätte (z.B. wenn der eine Zwilling
in einer europäischen Königsfamilie, der andere bei ungarischen
Zigeunern oder afrikanischen Buschmännern aufgewachsen wäre), hätte
sich ein wesentlich niedrigerer Wert für "Erblichkeit"
ergeben.
Wie Pinel ausführt, ist allerdings die Grundannahme der
Summation von genetischer und umweltbezogener Varianz, wie sie
all diesen genetischen Studien zugrundeliegt, bereits falsch:
"Wie die früheren Versionen der Erbe-Umwelt-Dichotomie ist
die Frage nach den Anteilen beider Einflüsse im Ansatz falsch
gestellt (Pinel 1997). Wenn man eine Beethoven-Sinfonie hört:
Wer will den jeweiligen Anteil der Instrumente, der Musiker, des
Dirigenten, der Komposition, der Raumakustik oder des
musikalischen Sensoriums des Publikums berechnen?, so Pinel
(Pinel 1997)..
Im Übrigen sind genetische Forschungsergebnisse zu ADHS schon
deshalb eher trivial, weil an allem menschlichen Verhalten Gene
irgendwie beteiligt sind, also auch an normalem Verhalten. Denn
ob es sich bei ADHS-Verhalten um krankhaftes oder gestörtes
Verhalten handelt, unterliegt keineswegs objektiven, sondern sehr
subjektiven, kulturell und gesellschaftlich bedingten
Beurteilungskriterien. Dabei weiss man sowieso noch fast nichts
darüber, wie Gene an komplizierten und durch Lernerfahrungen
stark mitgeprägten menschlichen Verhaltenskomplexen überhaupt
beteiligt sind. Bei anerkannten psychiatrischen Störungen wie
der Schizophrenie hat man nach vielen Jahrzehnten genetischer
Forschung auch keine klaren Erkenntnisse gewonnen.
Die Behauptung, ADHS sei überwiegend genetisch bedingt, ist also
unzulässig. Auch sie stellt nur eine Forschungshypothese und
keine wissenschaftliche Tatsache dar.
Ist "ADHS" erziehungsunabhängig?
Das behaupten heute auch eingefleischte ADHS-Anhänger nicht mehr.
Sie räumen Erziehungs-einflüssen mittlerweile immerhin einen
modulierenden Einfluss in dem Sinne ein, dass sie im günstigsten
Fall das Krankheitsbild mildern, aber angeblich nicht beseitigen
können. Keinesfalls aber könnten solche Einflüsse "ADHS"
verursachen.
Auch für diese Tatsachenbehauptung fehlen die wissenschaftlichen
Belege. Es gibt keine einzige prospektive Studie, die belegen könnte,
dass unterschiedliche familiäre, psychoedukative Faktoren keinen
Einfluss auf die Entstehung späteren ADHS haben. Die ADHS-Forschung,
die derzeit immerhin zigtausende Studien umfasst, hat sich mit
diesen wichtigen Fragen bisher nahezu gar nicht beschäftigt, und
das finde ich sehr schlimm, weil dadurch vielfältige
psychotherapeutisch-psychoedukative Hilfsmöglichkeiten für
Familien und Kinder ignoriert werden und stattdessen allzu rasch
auf die isolierte medikamentöse Behandlung einer angeblich
organischen Störung abgezielt wird.
Dass dem Faktor "Umwelt" bzw. "Erziehung"
allgemein eine herausragende Bedeutung zukommt, haben ja nicht
zuletzt Esser u. Schmidt bereits vor einigen Jahren sehr schön
nachgewiesen. Sie unterschieden die beiden Faktoren Anlage (=Teilleistungsstörungen
TLS) und Umwelt (=widrige familiäre Bedingungen FAI). Ihre Längsschnittuntersuchung
verdeutlicht das Zusammenspiel beider Faktoren bei Kindern: Wenn
ein 8jähriges Kind keine TLS und günstige FAI hatte, war die
Wahrscheinlichkeit zur Ausbildung einer späteren psychischen Störung
etwa 10 Prozent; wenn sowohl TLS als auch ungünstige FAI
vorlagen, 90 Prozent! Wenn zwar TLS, aber günstige FAI vorlagen,
war die Wahrscheinlichkeit 38 Prozent, wenn nur ungünstige FAI,
aber keine TLS vorlagen, 50 Prozent. Der Umweltfaktor FAI war
also stärker als der Anlagefaktor TLS.
Bei der 2. Untersuchung derselben Kinder mit 13 Jahren zeigte
eine querschnittliche Betrachtung, dass mit 8 Jahren bestandene
ausschließliche TLS bei günstigem FAI ihren Vorhersagewert für
eine spätere Verhaltensstörung verloren hatten, während der
Wert widriger familiärer Bedingungen erhalten geblieben war. Das
bedeutet also, dass Teilleistungsstörungen nur im Zusammenhang
mit widrigen familiären Bedingungen einen Effekt bei der
Ausbildung einer Verhaltensstörung hatten (Esser u. Schmidt 1987).
Menschen mit starker genetischer Prädisposition zur
Fettleibigkeit waren schlank, wenn ihr Lebensstil entsprechend
angepasst war (Blech 2010). Ich bin überzeugt, dies alles lässt
sich auch auf ADHS-Verhalten übertragen. Umwelterfahrungen,
Lebensstil und Erfahrungen formen unsere Gene in viel stärkerem
Ausmaß als bisher angenommen.
Es existiert eine sehr gute wissenschaftliche Untersuchung der
umweltabhängigen Entstehung von ADHS, also der Symptome
Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung. Sie stammt von
Carlson u.a. und ist wahrscheinlich die einzige in ihrer Art (im
Vergleich zu tausenden bisherigen Untersuchungen, in denen
vergeblich organische Ursachen gesucht wurden).
Diese Studie ist rein prospektiv. Man hat 191 Kleinkinder (ab dem
Alter von 6 Monaten) zu einem Zeitpunkt, als sie noch unauffällig
waren und keine Verhaltensstörungen aufwiesen, 14 Jahre lang
alle 6 Monate gründlich körperlich und psychologisch untersucht.
Die Studie wurde in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts
begonnen und 1995 veröffentlicht. Dieses aufwendige methodische
Vorgehen ist deshalb so kostbar, weil nur rein prospektive
Studien dieser Art wirklich valide Aussagen über Ursachen und
Folgen bestimmter Beobachtungen (hier ADHS) zulassen.
Die Untersuchungsergebnisse waren überzeugend. Die Forscher
fanden heraus, dass vor allem Familienkriterien eine Voraussage
zulassen, ob Kinder ADHS entwickeln werden oder nicht: "In
der frühen Kindheit ließ die elterliche Zuwendung sehr viel
deutlichere Voraussagen auf frühe Ablenkbarkeit (einem Vorläufer
späterer Hyperaktivität) zu als frühe biologische oder (eher
genetisch bedingte) Temperamentsfaktoren. Elterliche Zuwendung
und familiäre Kontextfaktoren (wie eheliche Geburt, Ausmaß der
emotionalen Zuwendung, die die primäre Bezugsperson des Kindes
erhielt, etc.) plus frühe Ablenkbarkeit ließen eine zuverlässige
Vorhersage auf Hyperaktivität in der mittleren Kindheit zu"
(Carlson 1995).
Viele Eltern von sog. "ADHS-Kindern" berichten, dass
ihre Kinder bereits im Säuglingsalter, praktisch von Geburt an,
ja manchmal bereits im Mutterleib, besonders unruhig und "nervenaufreibend"
waren. Viele Fachleute machen darauf aufmerksam, dass der
richtige Umgang mit solchen anstrengenden Babies für eine sog.
ADHS-Vorbeugung ausschlaggebend sein kann. Wenn es den Eltern
gelingt, sich optimal auf das "schwierige" Baby
einzustellen, verschwinden die Symptome nicht nur rascher, es können
auch Langzeitfolgen belasteter Eltern-Kind-Beziehungen (und eben
auch ADHS) vermieden werden. Ich bin der Ansicht, dass dieser
Anpassungsprozess bei vielen der derzeit als ADHS
diagnostizierten Kinder im Kleinkindalter nicht optimal gelungen
ist. "Gelassenheit" ist deshalb ja auch die wichtigste
Eigenschaft, die Eltern eines Schreibabies bewahren können müssen,
damit sich nicht eine Eskalation der Gereiztheit zwischen Eltern
und Baby aufschaukelt.
Wenn Eltern diese "Gelassenheit" nicht mehr alleine
herstellen können, sollten sie sich unbedingt professionell
helfen lassen. In Schreiambulanzen finden sie dann Unterstützung,
Austausch und kompetente fachliche Hilfe. Tracy Hogg, eine
englische Krankenschwester mit Spezialisierung auf
entwicklungsgestörte Neugeborene und Kleinkinder, erforschte in
den letzten 24 Jahren bei über 5000 Babies und Kleinkindern
deren Schreien, Körpersprache, Ausdruck und nonverbales
Verhalten. Mit ihrer Begabung, schwierige Babies zu verstehen,
erwarb sie sich inzwischen den Spitznamen "Babyflüsterer".
Seit sie in die USA kam, trainiert sie Eltern mit schwierigen
Neugeborenen, damit die Eltern ihr Baby verstehen und frühe
Eltern-Kind-Beziehungsstörungen von Anfang an vermieden werden können.
Sie wurde in den USA schnell bekannt. Viele Ärzte schicken
Eltern zu ihr. Sie trainiert vor allem stillende Mütter, aber
auch Vätergruppen von schwierigen Babies und Kleinkindern (Hogg
2006).
Angesichts der Komplexität des Störungsbildes sieht Mechthild
Papousek, Leiterin der "Münchner Sprechstunde für
Schreibabys "eklatante Lücken" im Versorgungsnetz.
Keine Berufsgruppe sei derzeit für diese speziellen Probleme im
Säuglingsalter ohne weitere Zusatzqualifikation fachlich
gewappnet. Zudem fehlten bundesweit interdisziplinäre
Beratungsstellen für das Säuglings- und Kleinkinderalter mit
einem qualifizierten Angebot von Eltern-Säuglings-Behandlungen.
Deshalb erstaunt es nicht, dass in den vergangenen zehn Jahren
2100 Familien das spezielle Beratungs- und Behandlungsangebot im
Münchner Kinderzentrum wahrgenommen haben. Die Ergebnisse sind
ermutigend. Mit einem vergleichsweise geringen Aufwand von
durchschnittlich 4 Terminen konnte 89 Prozent der Kinder
weitergeholfen werden. 45 Prozent der Kinder wurden vollständig
therapiert, bei weiteren 44 Prozent wurde immerhin erreicht, dass
sich die Kinder in ihrem Sozialverhalten und der
Beziehungsbindung stabilisieren konnten.
Ist "ADHS" vererbbar?
Diese Frage deckt sich weitgehend mit derjenigen nach der Genetik.
Angesichts der bereits erwähnten Fraglichkeit genetischer
Ursachen stützt sich die Behauptung einer Vererbbarkeit meistens
auf Familien- und Zwillingsstudien. Im individuellen Einzelfall
lassen sich aber ohnedies generell keine Aussagen über den
Anteil genetischer versus umweltbezogener Faktoren machen (Pinel
1997). Aber auch im Gruppenvergleich kann man aus familiären
Verhaltenshäufungen keine solchen Schlüsse ziehen, weil sich in
Familien genetische und psychosoziale Umwelteinflüsse immer
untrennbar miteinander vermengen.
Auch was Zwillingsstudien betrifft, sind die Aussagen keineswegs
unumstritten, denn auch eineiige, gemeinsam aufwachsende
Zwillinge teilen dieselbe psychosoziale Umwelt bei durchaus
unterscheidbaren psychologischen Erfahrungen (auch Zwillinge
haben voneinander unterscheidbare Geschwisterrollen), so dass
auch hier die Aussagen über Vererbung versus Umwelt schwierig,
im Einzelfall sowieso unmöglich sind.
Auch Zwillinge teilen ca. 9 Monate lang denselben mütterlichen
Blutkreislauf. Die hohe Mongolismuskonkordanz bei Zwillingen kann
deshalb zum Beispiel nicht auf Vererbung, sondern auf das relativ
hohe Lebensalter der Mütter zurückgeführt werden (Penrose 1950).
Sogar getrennt aufwachsende eineiige Zwillinge wachsen, wie
bereits erwähnt, oft in sehr ähnlichen psychosozialen Kontexten
auf, so dass ihre Verhaltensgemeinsamkeiten immer auch auf ihre
geteilte Umwelt zurückgehen können. Studien zu Diskonkordanzen
bei Zwillingen fehlen außerdem völlig. Wenn man bei zwei
Gruppen von Menschen alle Diskonkordanzen außer Acht lässt und
nur nach Konkordanzen sucht, wird man sehr rasch in gewünschter
Richtung fündig. Meist wird auch übersehen, dass sich die frühe
psychologische Umwelt bei eineiigen Zwillingen von derjenigen von
Einlingen und zweieiigen Zwillingen unterscheidet. Die
Bindungsforschung konnte z.B. zeigen, dass Geschwisterkinder zu
50 bis 65% denselben Bindungstyp an die Mutter aufweisen,
Zwillinge aber nur zu 30 bis 50 %. Zwillinge zeigten sich also häufiger
ganz unterschiedlich an die Mutter gebunden (Sagi u.a. 1995;
Dornes 2000).
Eineiige, sehr früh getrennte Zwillinge gibt es ansonsten zu
selten, um damit zuverlässige Studien anzustellen. Viele solcher
Zwillingsstudien leiden denn auch unter Stichproben-, Methoden-
und Diagnosefehlern. In einer amerikanischen Schizophrenie-Studie
fand der Autor in den gesamten USA einmal ganze 19 getrennt
aufgewachsene eineiige Zwillingsparre, aber leider keiner davon
war schizophren. Jackson, der dies berichtet, fand seinerzeit in
der gesamten 40jährigen Schizophrenieliteratur nur ganze zwei
eineiige, schizophrene Zwillingspaare (Jackson 1960). Die bisher
umfassendste allgemeine Zwillingsstudie, die Minnesota-Studie,
musste sich mit 59 getrennt aufgewachsenen eineiigen
Zwillingspaaren begnügen (Bouchard u.a. 1990). Im Übrigen sagt
auch die Konkordanz eines bestimmten Verhaltens noch nichts über
dessen Krankhaftigkeit aus. Wenn beide Kinder z.B. rote Haare
haben, sagt das wohl etwas über Vererbung, aber noch nichts über
eine Störung aus.
Ein häufiger Trugschluss von Eltern besagt, dass es für die
Vererbung von ADHS spreche, wenn nur eines ihrer Kinder diese
Diagnose erhält, die anderen aber nicht, obwohl doch alle ihre
Kinder in derselben Familie, also unter scheinbar identischen
Umwelteinflüssen aufwachsen. Sie schließen daraus, dass nur
eines ihrer Kinder ADHS geerbt habe, die anderen glücklicherweise
nicht. Dass aber Geschwisterkinder ihre Familie ganz
unterschiedlich erleben und auch ganz unterschiedlichen
erzieherischen Einflüssen ausgesetzt sind, wird dabei völlig übersehen.
Man weiß, dass sich Geschwisterkinder in ihrer Persönlichkeit (bis
hin zum Intelligenzquotienten) meist mehr unterscheiden als zwei
willkürlich herausgegriffene fremde Kinder gleichen Alters.
Plomin und Dunn widersprechen denn auch der Annahme, dass
Geschwister ihre Umwelt ähnlich erleben. Sie zeigen, wie das
familiäre Zusammenspiel mit den Eltern, Geschwistern, Freunden für
jedes Kind eine unterschiedliche Umwelt innerhalb derselben
Familie schafft. Diese subtilen Unterschiede, so argumentieren
die Autoren, formen die Persönlichkeitsentwicklung weit stärker
als die geteilten Gemeinsamkeiten (Plomin u. Dunn 1996).
Abgesehen von dieser allgemeinen Kritik an der Zwillingsforschung
besteht ein sehr ernstes Problem, das alle ADHS-Studien, also
auch diejenigen zur Vererbung und Genetik, überschattet, in der
erschreckenden Unzuverlässigkeit der ADHS-Diagnostik. Ganz
abgesehen davon, dass es sowieso keine wissenschaftlich
objektivierte, valide und unbestrittene ADHS-Diagnostik gibt,
entsprechen die meisten Diagnosen nicht einmal dem
Mindeststandard der ärztlichen Diagnoserichtlinien. Aus einer
Arbeit von Angold geht hervor, dass 75 % der Kinder, die mit
Stimulanzien behandelt werden, die diagnostischen Kriterien für
ADHS überhaupt nicht erfüllten. Fast 60 % der Diagnosen waren
ganz einfach falsch (Angold 2000; Lehmkuhl 2002).
Was bei der ADHS-Diagnostik eigentlich gemessen wird, weiß im
Grunde niemand. Wird eine medizinische Krankheit gemessen, oder
nur mehr oder weniger normale Verhaltensvariationen, oder
allbekannte psychoreaktive Verhaltensstörungen? Die
Diagnosekataloge in Deutschland und USA stimmen nicht überein.
Wenn 3 Fachleute über ADHS sprechen, meint wahrscheinlich jeder
von ihnen etwas anderes, ganz abgesehen von den vielen nur ganz
einseitig informierten und stark verängstigten Eltern
verhaltensschwieriger Kinder, denen man eingeredet hat, dass ihre
Kinder an einer genetischen Hirnfunktionsstörung leiden, die mit
Psychostimulanzien behandelt werden müsse.
Ist "ADHS" unheilbar?
Da es, wie erwähnt, keinerlei medizinisch-organischen Marker für
"ADHS" gibt, ist diese Behauptung medizinisch-organisch
auch gar nicht belegbar. Wenn man "ADHS" aber als
Verhaltensstörung betrachtet, ist sie durchaus heilbar, denn
immer dann, wenn das gestörte Verhalten verschwunden ist und
keine Verschiebungen stattgefunden haben, läge "Heilung"
vor. Und dass dies möglich ist, belegen inzwischen vielfältige
therapeutische Erfahrungen von Klinikern und Eltern. Trotz
abertausender anderer Studien zu ADHS (vor allem zur Medikation)
hat sich die ADHS-Forschung mit dieser Frage bisher gar nicht
beschäftigt. Aus dem Fehlen von Forschungsstudien darf man aber
natürlich nicht schließen, dass die Unheilbarkeit belegt sei.
Dass allerdings Psychopharmaka ADHS nicht heilen, sondern
Wahrnehmung und Verhalten lediglich kurzfristig künstlich verändern
bzw. dämpfen, versteht sich von selbst. Bei Absetzen des
Medikaments stellt sich das "gestörte" Verhalten unverändert
wieder ein. Die früher vorherrschende ausschließlich medikamentöse
Behandlung, die heute bereits als Kunstfehler gelten muss, hat
wohl aus dieser Beobachtung den Mythos einer Unheilbarkeit
abgeleitet. Heute kann man aber davon ausgehen, dass ADHS
psychotherapeutisch-psychoedukativ im selben hohen Maße heilbar
ist wie alle anderen kindlichen Verhaltensstörungen auch.
Allerdings darf nicht länger allein am Kind herumtherapiert
werden, ohne sein störendes Milieu (Familie, Kindergarten,
Schule etc.) mit zu behandeln. Diese familientherapeutisch-systemische
Sicht und Methodik hat sich in anderen Psychotherapiefeldern längst
durchgesetzt. Bei ADHS ist dies nicht der Fall. Hier wird wenn
überhaupt- kindzentriert einseitig verhaltenstherapeutisch
allein mit dem kindlichen Symptomträger gearbeitet. Diese
unvollständige Methodik, die die gesamte Umwelt des Kindes unberücksichtigt
lässt, erklärt denn auch die im Vergleich zur Medikation eher
geringen Erfolge (s. die sog. MTA-Studie 1999. Hüther und Bonney
(2002) finden es symptomatisch, dass eine halbe Million Beiträge
zum Thema ADHS vorliegen, die sich der medikamentösen Behandlung
widmen und nur knapp 3000, die sich der psychotherapeutischen
Praxis zuwenden.
Wie wirkt "Ritalin"?
Soviel man weiß (und man weiß noch nicht viel) wirken
Psychostimulantien bzw. Ampheta-minabkömmlinge nicht auf einen
spezifischen Ort des Gehirns, sondern vielmehr wie eine Dusche
auf weite Teile des gesamten Zentralnervensystems. Im Vordergrund
steht die Wirkung auf das dopaminerge System. Dopamin beeinflusst
Wahrnehmung und Gefühle, es kann auch Depressionen auslösen.
Die Wirkung von Drogen, also das Hochgefühl von Glück, Freude
und Zuversicht, wird auf eine verstärkte Ausschüttung von
Dopamin zurückgeführt bzw. geht damit einher. Man spricht
deshalb auch vom Dopamin-Belohnungssystem. Im Tierversuch konnte
man nachweisen, dass eine Injektion von Drogen in bestimmte
sensible Hirngebiete dazu führt, dass dort eine erhöhte
Dopaminkonzentration eintritt. Gezeigt werden konnte diese
Stimulation für Opiate, Kokain und Amphetamine.
Andere Drogen bewirken eine Hemmung eines anderen bekannten
Neurotransmitters, des Noradrenalins. Diese Hemmung bewirkt
indirekt ebenfalls eine Dopamin-Konzentrationserhöhung. Drogen,
die diese indirekte Stimulation bewirken, sind Opiate, Alkohol,
Barbiturate und Benzodiazepine. Auch die körpereigenen
Endorphine wirken auf diese Weise. Nikotin und Koffein
stimulieren ebenfalls das dopaminerge Belohnungssystem.
Methylphenidat (wie z. B. auch Kokain) hemmt die Wiederaufnahme
von Dopamin in die Präsynapse durch die Ausschaltung der Dopamin(rück-)transporter
DAT (Krause 2000). Die Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt
wird um das etwa 5-10fache erhöht, wobei vorher eine Entleerung
der abgebenden Nervenzelle stattfindet. Dieser durch
Methylphenidat ausgelöste Prozess läuft im Gehirn normalerweise
als Folge der Wahrnehmung eines äußeren oder inneren Reizes ab.
Der erwähnte künstlich erzeugte Dopamin-Anstieg führt dazu,
dass jede weitere Dopaminfreisetzung durch äußere oder innere
Reize gehemmt wird. Jetzt kann sich also ein Schüler drei bis
vier Stunden besser konzentrieren und weniger von störenden
inneren und äußeren Einflüssen ablenken lassen (Hüther 2002).
Wie aber die medikamentös bedingte Dopaminzunahme im
synaptischen Spalt mit dem Verhalten der ADHS-Kinder wirklich
genau zusammenhängt, ist noch nicht verstanden (Volkow 2005).
"Ob im Gehirn unruhiger Kinder tatsächlich zu wenig (oder
vielleicht auch zu viel) Dopamin freigesetzt wird, lässt sich
auch mit Hilfe der neuen bildgebenden Verfahren bisher nicht
nachweisen" (Hüther 2002).
Wie alle Amphetamine hält Methylphenidat wach, schärft die
Sinne und die Aufmerksamkeit, verbessert die Selbstkontrolle und
macht ruhig und gefasst, und zwar nicht nur bei ADHS, sondern
allgemein. Die Behauptung, die Wirkung von Methylphenidat beweise
das Vorliegen von ADHS, ist falsch. In entsprechender Dosierung
und Anwendung (Injektion oder Schnupfen) wirkt es suchterzeugend
wie das ihm sehr ähnliche Kokain. Medikamentös korrekt
verabreicht scheint aber keine körperliche Suchtgefährdung im
engeren Sinne zu bestehen, obwohl gerade Barkley, einer der
Verfechter dieser These, in einer Studie zur Frage, ob die
Stimulanzienbehandlung von Kindern deren späteren
Drogenmissbrauch fördere, herausfindet, dass späterer
Kokainmissbrauch als Erwachsener durchaus gefördert wird. Er
bringt diesen statistisch bedeutsamen Zusammenhang dann aber
methodisch wieder zum Verschwinden (Barkley 2003).
Trotz tausender Studien zur Medikamentenwirkung werden die
Nebenwirkungen und Folgen einer Methylphenidat-Medikation erst in
letzter Zeit intensiver untersucht. Dabei zeigen sich
besorgniserregende Befunde: Moll, Hüther u.a. machten 2001 den
Anfang und fanden im Tierversuch, dass Methylphenidat dauerhafte
Hirnveränderungen bzw. -schädigungen erzeugt (Moll 2001). Hüther
machte auf ein möglicherweise erhöhtes Parkinsonrisiko
aufmerksam (Hüther 2002). Weitere Befunde neuerer kritischer
Tierstudien kommen aus renommierten USA-Hochschulinstituten. In 4
Tierstudien konnten die Forscher bei Übertragung der Befunde auf
den Menschen die Vermutungen begründen, dass
Ritalin bei Kindern hirnmolekulare Veränderungen im
Striatum bewirkt
Ritalin bei Kindern zu bleibenden und dramatischen
dopaminergen Hirnveränderungen im Erwachsenenalter führt. (Carlezon
2003; Brandon 2003, 2004).
Eine Studie der University of Texas, USA, mit vorläufig nur 12
Kindern, die mit Methylphenidat behandelt wurden, hat ein
Besorgnis erregendes Ergebnis erbracht, das in folgenden Studien
aber nicht wiederholt werden konnte: Bei allen 12 Kindern wurden
schon nach dreimonatiger normaldosierter Einnahme von
Methylphenidat Chromosomenbrüche festgestellt. Bluttests, die
sonst zur Feststellung eines Krebsrisikos eingesetzt werden,
zeigten dies. Die Forscher sprechen von einem dreifach höheren
Risiko, an Krebs zu erkranken. Sie bringen ihr Erstaunen zum
Ausdruck, dass bislang so wenige solcher Studien über
Nebenwirkungen durchgeführt wurden, obwohl bereits 1996 bei Mäusen
Leberkrebs nach Einnahme von Methylphenidat festgestellt worden
war.
Die psychologischen Folgen einer ADHS-Diagnose bei Kindern mit
ihren Implikationen für die Eltern-Kind-Beziehungen sowie die
psychologischen Auswirkungen einer medikamentösen Langzeit-behandlung
sind sehr ernst zu nehmen, aber noch völlig unerforscht.
Kliniker erleben immer wieder mit Erschrecken, wie sich die
Gesellschaft lieber der Psychopharmaka bedient, als an den
Umweltbedingungen der Kinder nachhaltig etwas zu verbessern. Wenn
ein Kind viele Jahre lang unter seiner gestörten Familie leidet,
aber lediglich medikamentös beruhigt wird, kommt dies einer
modernen Form der Kindesmisshandlung gleich.
Die psychosozialen Implikationen einer Ritalinbehandlung von
Kindern dürfen nicht länger ausgeblendet bleiben. Kinder nehmen
Ritalin überwiegend widerwillig, weil sie sich auf gesunde Weise
gegen die stigmatisierende Zuschreibung einer angeblichen
Krankheit wehren. Viele Kinder fühlen sich unter
Ritalineinwirkung nicht mehr wie "sie selbst". Oder sie
erleben die Medikamentierung als Strafe für "schlechtes"
Verhalten. Viele dieser Kinder wachsen im Bewusstsein heran, bei
ihnen im Hirn sei sozusagen "eine Schraube locker", ihr
Gehirn sei irgendwie gestört oder kaputt. Die Auswirkungen einer
medikamentösen Behandlung kindlicher Verhaltensschwierigkeiten
auf Selbstwertgefühl und psychosoziale Entwicklung der Kinder
sind sicher erheblich, werden aber bisher wissenschaftlich völlig
ignoriert.
Literatur:
Angold, A, Erkanli, A, Egger, HL, Costello, EJ.: Stimulant
treatment for children: a community perspective. J Am Acad Child
Adolesc Psychiatry Aug; 39(8): 2000
Amft, H. /M. Gerspach/D. Mattner: Kinder mit gestörter
Aufmerksamkeit. Kohlhammer 2004 (2. Auflage)
Armstrong, Th.: ADD: Does It Really Exist? Phi Delta Kappan 1996
Armstrong, Th.: Das Märchen vom ADHS-Kind. Junfermann 2002
Banaschewski, T, u.a. Towards an understanding of unique and
shared pathways in the psychopathophysiology of ADHD. Dev Sci. 8
(2):132-40. 2005
Barkley, R. A: frontline-Interview 2001 http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/medicating/interviews/barkley.html
Barkley, R. A.: International Consensus Statement on ADHD. J Am
Acad Child Adolesc Psychiatry. 2002
Barkley, R. A., Fischer, M., Smallish, L. and Fletcher, K.: Does
the Treatment of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder With
Stimulants Contribute to Drug Use/Abuse? A 13-Year Prospective
Study. PEDIATRICS Vol. 111 No. 1, pp. 97-109, January 2003
Blech, J.: Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht
werden. Fischer 2003
Blech, J.: Gene sind kein Schicksal. S. Fischer 2010
Bobb AJ, Castellanos, FX, Addington, AM, Rapoport, JL.: Molecular
genetic studies of ADHD: 1991 to 2004. Am J Med Genet. 2004
Bolanos, CA, Barrot M, Berton O, Wallace-Black D, Nestler EJ.:
Methylphenidate treatment during pre- and periadolescence alters
behavioral responses to emotional stimuli at adulthood. Biol
Psychiatry. Dec 15;54(12):1317-29, 2003.
Bonney, H: Systemische Therapie bei ADHD-Konstellationen. In:
Rotthaus, W. (Hrsg.): Systemische Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie. Carl-Auer-Systeme 2001 Bovensiepen/Hopf/Molitor
(Hrsg.): Unruhige und unaufmerksame Kinder. Psychoanalyse des
hyperkinetischen Syndroms. Brandes u. Apsel 2002
Bouchard, Jr. u.a.: Sources of human psychological differences:
The Minnesota study of twins reared apart. Science 250, 1990
Brandon, CL, Marinelli M, White FJ.: Adolescent exposure to
methylphenidate alters the activity of rat midbrain dopamine
neurons. Biol Psychiatry. 2003 Dec 15;54(12):1338-44
Brandon, CL, Steiner H.: Repeated methylphenidate treatment in
adolescent rats alters gene regulation in the striatum. Eur J
Neurosci. 2003 Sep;18(6):1584-92
Braun, A. K.: Die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung des
kindlichen Gehirns. Frühe Kindheit 4, 2001
Breggin, P. R. Psychostimulants in the treatment of children
diagnosed with ADHD: Risks and mechanism of action. International
Journal of Risk & Safety in Medicine 12 335 3, IOS
Press 1999
Breggin, P. R.: The NIMH multimodal study of treatment for
attention-deficit/hyperactivity disorder: A critical analysis.
International Journal of Risk & Safety in Medicine 13 15-22,
2000.
Breggin, P. R.: The Ritalin Fact Book. Perseus 2002
Bruer, J.T.: Der Mythos der ersten drei Jahre. Beltz 2000
Burt, SA, Krueger, RF, McGue, M, Iacono, W.: Parent-child
conflict and the comorbidity among childhood externalizing
disorders. Arch Gen Psychiatry. 2003 May;60(5):505-13.
Carlezon, W. A. Jr, Mague, SD, Andersen SL: Enduring behavioral
effects of early exposure to methylphenidate in rats. Biol
Psychiatry. 2003 Dec 15;54(12):1330-7.
Carlezon, WA Jr, Konradi, C.: Understanding the neurobiological
consequences of early exposure to psychotropic drugs: linking
behavior with molecules. Neuropharmacology. 2004;47 Suppl 1:47-60
Carlson, E.A., Jacobvitz, D, Sroufe, LA: A developmental
investigation of inattentiveness and hyperactivity. Child Dev.
1995, 66 (1): 37-54.
Cohen, N. J., Muir, E. und Lojkasek, M.: Watch, Wait and Wonder:
Ein kindzentriertes Psychotherapieprogramm zur Behandlung gestörter
Mutter-Kind-Beziehungen. In: Kinderanalyse 11, Heft 1, 2003, S.
58-79.
DeGrandpre, R.: Die Ritalingesellschaft. ADS: Eine Generation
wird krankgeschrieben. Beltz 2002
Deutsches Ärzteblatt: http://www.aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?id=19168
Diller, L.H.: ADS u. Co. Braucht mein Kind Medikamente? Walter
2003
Dornes, M.: Die emotionale Welt des Kindes. Fischer 2000
Döpfner, M. /J. Frölich/G. Lehmkuhl: Hyperkinetische Störungen.
Hogrefe 2000
Drug Effectiveness Review Project: http://www.ohsu.edu/drugeffectiveness/,
2003
El-Zein, R. A., Abdel-Rahman, SZ, Hay, MJ, Lopez, MS, Bondy, ML,
Morris, DL, Legator, MS.: Cytogenetic effects in children treated
with methylphenidate. Cancer Lett. 18;230(2):284-91, 2005
Esser, G. u.a..: Prävalenz und Verlauf psychischer Störungen im
Kindes- und Jugendalter. In: Zeitschrift für Kinder- und
Jugendpsychiatrie 20.. 232 242, 1992
Esser, G., Schmidt M.H.: Epidemiologie und Verlauf
kinderpsychiatrischer Störungen im Schulalter - Ergebnisse einer
Längsschnittstudie. Nervenheilkunde 6, 27-35, 1987
Furman, L.: Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder Treatment
and Later Drug Use PEDIATRICS Vol. 112 No. 6, pp. 1459-1460,
December 2003
Furman, L. What is attention-deficit hyperactivity disorder (ADHD)?
J Child Neurol.;20(12):994-1003, 2005
Gatley, SJ, Volkow, ND, Gifford, AN, Fowler, JS, Dewey, SL, Ding,
YS, Logan, J.: Dopamine-transporter occupancy after intravenous
doses of cocaine and methylphenidate in mice and humans.
Psychopharmacology (Berl);146(1):93-100, 1999
Heinemann, E.: ADS mit und ohne Hyperaktivität bei Jungen und Mädchen
- ein psychoanalytisches Forschungsprojekt zur Genderforschung.
Analytische Kinder- u. Jgdl.-Psychotherapie 117, , S. 25-43, 1/2003.
Heinemann, E. /U.Rauchfleisch /T.Grüttner: Gewalttätige Kinder.
Fischer 1992
Hogg, T.: Babyflüsterer. Lernen Sie die Sprache Ihres Kindes
verstehen. Goldmann 2006
Huang-Pollock, CL, Nigg, JT, Carr, TH.: Deficient attention is
hard to find: applying the perceptual load model of selective
attention to attention deficit hyperactivity disorder subtypes. J
Child Psychol Psychiatry. Nov;46(11):1211-8 2005
Hüther, G. /H. Bonney: Neues vom Zappelphilipp. Walter 2002
Kaplan, BJ, Dewey, DM, Crawford, SG, Wilson, BN: The term
comorbidity is of questionable value in reference to
developmental disorders: data and theory. J Learn Disabil.;34(6):555-65,
2001
Klein, RG, Abikoff, H, Klass, E, Ganele, D, Seese, LM, Pollack, S.:
Clinical efficacy of methylphenidate in conduct disorder with and
without attention deficit hyperactivity disorder. Arch Gen
Psychiatry. Dec;54(12):1073-80, 1997
Krause, K.-H., Dresel, St., Krause, J.: Neurobiologie der
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-störung. Psycho 26,
2000
Krowatschek, D.: Alles über ADS. Walter 2001
Lehmkuhl, G., Lehmkuhl, U.: Editorial in Praxis Kinderpsychol.
Kinderpsych. 6, 2002
Lesesne, CA, Visser, SN, White, CP. Attention-deficit/hyperactivity
disorder in school-aged children: association with maternal
mental health and use of health care resources. Pediatrics. 2003
May;111(5 Part 2):1232-7.
Lorenze, A: Sprache, Lebenspraxis und szenisches Verstehen in der
psychoanalytischen Therapie. Psyche 1983, 37, 2, 97-115.
Lubar, JF et. al.: Evaluation of the effectiveness of EEG
neurofeedback training for ADHD in a clinical setting as measured
by changes in T.O.V.A. scores, behavioral ratings, and WISC-R
performance. Biofeedback Self Regul. Mar;20(1):83-99, 1995
Moll, GH, Hause, S, Ruther, E, Rothenberger, A, Huether, G.:
Early methylphenidate administration to young rats causes a
persistent reduction in the density of striatal dopamine
transporters J Child Adolesc Psychopharmacol Spring;11(1):15-24,
2001
MTA-Studie: MTA Cooperative Group: A 14 Month Randomized Clinical
Trial of Treatment Strategies for ADHD, Arch Gen Psychiatry,;56:
1073 1086, 1999
Penrose, L. S.: Value of genetics in medicine. Brit. M. J., 2:
903, 1950
Pinel, J.P.J.: Biopsychologie. Spektrum 1997
Plomin, R., Dunn J.: Warum Geschwister so verschieden sind. Klett-Cotta
1996
Rappaport, GC, Ornoy, A, Tenenbaum, A.: Is early intervention
effective in preventing ADHD? Isr J Psychiatry Relat Sci.;35(4):271-9,
1998
Rossi, P.: (K)ein Fall von ADHS. http://www.adhs.ch/forum/showthread.php?p=215#post215
Sagi, A., M. van Ijzendoorn, 0. Aviezer, E Donnell, N. Koren-Karie,
T Jods und Y. Harel: Attachments in a multiple-caregiver and
multiple-infant environment: The case of the Israeli kibbutzim.
In: E. Waters, B. Vaughn, G. Posada und K. Kondo-Ikemura (Hrsg.):
Caregiving, Cultural, and Cognitive Perspectives on Secure-Base
Behavior. New Growing Points of Attachment Theory and Research.
Chicago (Univ. of Chicago Press), 7191, 1995
Schmidt, H.-R.: Café Holunder. 2001-2005: http://www.ads-kritik.de
Schmidt, H.-R.: ADHS-Vorbeugung im Säuglingsalter. In: http://www.win-future.de
2002
Schmidt, H.-R.: ADS-Paradigmenwechsel. Oder: Der Storch bringt
keine Kinder. In: http://www.win-future.de 2002
Schmidt, H.-R.: Zur angeblich spezifischen Methylphenidat-Wirkung
(Ritalin). In: http://www.win-future.de 2002
Schmidt, H.-R.: Familientherapie bei "ADHS". ALG-Bulletin
98, 3/2003, Bern
Schmidt, H.-R.: Ich lerne wie ein Zombie. Plädoyer für das
Abschaffen von ADHS. Centaurus 2010 Schmidt, M. H. Das MCD-Konzept
ist überholt. Dt Ärztebl 89, B-273-276, 1992
Shorter, E.: Geschichte der Psychiatrie. Rowohlt 2003
Simon, M.: Hyperaktiven Kindern wird durch Psychotherapie
geholfen. Pressemitteilung 2002 http://www.vakjp.de/
Timimi, S. u.a.: . A critique of the international consensus
statement on ADHD. Clinical Child and Family Psychology Review,
Vol. 7, No. 1, 2004
Vastag, B.: Pay attention: Ritalin acts much like cocaine! J.
Americ. Med. Ass., 286 (8), 2001
Volkow, ND, Fowler JS, Wang G, Ding Y, Gatley SJ.: Mechanism of
action of methylphenidate: insights from PET imaging studies. J
Atten Disord.; 6 Suppl 1:S31-43, 2002.
Volkow, ND, Wang GJ, Fowler JS, Ding YS.: Imaging the effects of
methylphenidate on brain dopamine: new model on its therapeutic
actions for attention-deficit/hyperactivity disorder. Biol
Psychiatry. Jun 1;57(11):1410-5. Epub 2005 Jan 12, 2005.
Volkow, ND.: Stimulant Medications: How to Minimize Their
Reinforcing Effects? American Journal of Psychiatry 163:359-361,
March 2006
Voß R. /R. Wirtz: Keine Pillen für den Störenfried. rororo
2000
Voß, R. (Hrsg.): Pillen für den Störenfried? Hoheneck 1983
Weinstein, D, Staffelbach, D, Biaggio, M.: Attention-deficit
hyperactivity disorder and posttraumatic stress disorder:
Differential diagnosis in childhood sexual abuse. Clin Psychol
Rev Apr;20(3):359-78, 2000
© 2010 Alle Rechte beim Autor