Hans-Reinhard Schmidt

Zur Theorie und Praxis der psychoanalytisch orientierten Familientherapie nach dem Duplikationstheorem

1. Einleitung

Obgleich die Anzahl methodischer Ansätze und theoretischer Cberlegungen auf dem Gebiet der Familientherapie mittlerweile nahezu unüberblickbar zu werden droht, soll hier ein Ansatz beschrieben werden, der zwar eklektisch, im wesentlichen aber psychoanalytisch orientiert ist. Im Gegensatz zu manch anderem Ansatz hat dieser den Vorzug, praktikable Richtlinien für eine therapiebezogene Familiendiagnostik zu bieten. Dies scheint besonders wichtig, wenn man ACKERMANs Charakterisierung des Standes der Diagnostik auf diesem Gebiet heranzieht: "Das Problem der Familiendiagnostik konfrontiert uns mit einigen Widersprüchen. Trotz des raschen Fortschritts in der Behandlungstechnik gibt es einen deutlichen Rückstand in der Familiendiagnostik" (ACKERMAN, 1971, S. 153; zitiert nach REITER, 1975, S. 392).

2. Theoretische Grundannahmen
2.1. Allgemeine Motivationstheorie

Das im folgenden beschriebene theoretische Modell, das der darzustellenden Therapiemethode zugrunde liegt, folgt im Wesentlichen der Motivationstheorie und der Theorie der Familienkonstellationen von TOMAN (1968, 1973, 1974). Danach kann man alles, was ohne menschliche Mitwirkung nur sehr unwahrscheinlich eingetreten wäre, als von Menschen motiviert, als Motive betrachten. Menschliche Entwicklung läßt sich dann kennzeichnen durch die wachsende Anzahl an einer Person identifizierbarer Motive sowie durch die Verlängerung (bzw. Vergrößerung der Variabilität) der zeitlichen Intervalle zwischen den aufeinanderfolgenden Befriedigungen eines Motivs. Zunehmend mehr Motive treten in Beziehung zueinander, können sich gegenseitig ersetzen und aufheben, sie bilden Motivsysterne.

Der Erwerb neuer Motive geht in der Regel einher mit dem mehr oder weniger vollständigen und raschen Verzicht auf ältere Motive. Wenn durch reale Widerstände Motivbefriedigungen ausfallen (Deprivation), tritt die Notwendigkeit nach Ersatz in den Vordergrund. Andere im betroffenen Motivsystem weiterhin befriedigbare Motive verkürzen ihre Befriedigungsintervalle, um das ausgefallene Motiv mehr oder weniger zu ersetzen (Ersatzmotive). Dieser Prozess (Verzicht, Verdrängung) beinhaltet nicht nur die ersatzweise Befriedigung eines ausgefallenen Motivs, sondern auch die Reduktion des mit der primären Deprivation einhergehenden Angst-Aggressions-Zustandes (Primärangst). Dabei kann angenommen werden, daß dieser Angst-Aggressions-Zustand um so deutlicher aggressiv aufscheint, je weniger die Person von der Dauerhaftigkeit oder Endgültigkeit der Deprivation überzeugt ist (TOMAN, 1968, S. 178; CLEMENTE und LINDSLEY, 1967). Im Übrigen wird Aggression als in der menschlichen Entwicklung implizierte motivationale Bedingung betrachtet. Sie umschreibt im Prinzip nur spezielle, meist primitivere und sozial unerwünschte Wege von Motivbefriedigungen, die andere Menschen in deren Gelegenheiten zu Motivbefriedigungen einschränken. Sozial erwünschtere Wege wären etwa "Kooperation", "Karrieremachen" etc.

Verzichtleistungen können mehr oder weniger vollständig ausgehen. Ein vollständiger Verzicht bleibt sozusagen für alle zukünftigen Situationen ausreichend. Im Falle eines unvollständigen Verzichts werden Situationen mit erhöhtem Aufforderungscharakter zur Befriedigung des ursprünglich ausgefallenen Motivs (Versuchungssituationen) wiederum Angst-Aggressions-Zustände auslösen (Sekundärangst) und den erneuten Einsatz von Ersatzmotiven nach sich ziehen (Nachverdrängung). Auch die Deprivation von Ersatzmotiven selbst hat diese Wirkung.

2.2. Familienkonstellation und Dupfikationstheorem
In der individuellen Entwicklung bauen Motive sozusagen kumulativ aufeinander auf. In ontogenetisch jüngeren Motiven wirken ontogenetisch ältere Motive weiter. Man kann dies auch einfacher ausdrücken: je ähnlicher eine Situation einer früheren Situation ist, um so besser ist sie der Person bereits bekannt und um so weniger Deprivation erwartet sie darin. Wendet man diesen Sachverhalt auf das Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen an, so kann man sagen, daß eine später im Leben eingegangene Personbeziehung um so befriedigender verläuft, je ähnlicher sie einer früher im Leben bestandenen Beziehung ist. "Unter sonst vergleichbaren Bedingungen haben ontogenetisch spätere (extrafamiliäre) soziale Beziehungen um so mehr Aussicht auf Dauer und Erfolg, je ähnlicher sie ontogenetisch früheren (intrafamiliären) sozialen Beziehungen sind" (Duplikationstheorem, TOMAN, 1968).

Als Kriterien zur Charakterisierung sozialer Beziehungen werden mindestens Alter und Geschlecht einer Person verwendet. Anhand des Lebensalters läßt sich die Stellung einer Person in ihrer Geschwisterreihe feststellen. In einer Drei-Kinder-Familie z.B. kann ein Junge Ältester, Mittlerer oder Jüngster sein, und zwar Ältester von zwei jüngeren Schwestern oder Brüdern, oder von einer (nächstjüngeren bzw. jüngsten) Schwester und einem (nächstjüngeren bzw. jüngsten) Bruder; Mittlerer von zwei Brüdern oder Schwestern oder von einem (älteren bzw. jüngeren) Bruder oder einer (älteren bzw. jüngeren) Schwester; Jüngster von zwei älteren Brüdem oder Schwestern, oder von einer (nächstälteren bzw. ältesten) Schwester und einem (nächstälteren bzw. ältesten) Bruder. Bei n Kindern in einer Familie hat ein gegebenes Kind demnach eine von n2n möglichen Positionen.

Die Eltern selbst stammen aus einer Familie mit oder ohne Geschwister. Sie können deshalb sozusagen als ehemalige Kinder ebenfalls in diesen Kategorien beschrieben werden. Ein Beispiel für solch eine Familienkonstellation sei Familie Müller: Herr Müller hatte in seiner früheren Familie eine jüngere Schwester, Frau Müller einen älteren Bruder. Beide haben zusammen einen älteren Sohn und eine jüngere Tochter. Symbolisch läßt sich Familie Müller so kennzeichnen: b(s)/b(s)/(b)s. s steht für "Schwester", b für "Bruder". Ältere Geschwister stehen vor den jüngeren, der Querstrich / trennt die einzelnen Personen, man kann ihn auch mit "soziale Beziehung mit" umschreiben. In Klammern stehen jeweils die Geschwister der betreffenden Person.

Eine soziale Beziehung wird also um so günstiger eingestuft, je mehr zwei Personen füreinander frühere innerfamiliäre Beziehungen wiederholen. Je nach dem Grad dieser Wiederholung unterscheidet man mehr oder weniger komplementäre Beziehungen. Auch die Ehe der Eltern kann unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Im Beispiel der Familie Müller haben wir folgenden Sachverhalt: die Eltern wiederholen miteinander (was Alter und Geschlecht ihrer Geschwister betrifft) frühere innerfamiliäre Beziehungen, Herr Müller war von daher an den Umgang mit einer jüngeren Schwester gewohnt. Diese "Gewohnheit" kann er bei seiner Frau fortführen, da sie den Umgang mit einem älteren Bruder gewohnt ist. Auch Frau Müller kann also im Kontakt zu ihrem Mann eine,alte Gewohnheit' fortsetzen. Die Beziehungen der Eltern zu den jeweils andersgeschlechtlichen Kindern tragen ebenfalls diese Merkmale völliger Komplementarität, während die Beziehungen zum jeweils gleichgeschlechtlichen Kind Identifikationsbeziehungen sind (gleiche Position zwischen Eltemteil und gleichgeschlechtlichem Kind).

2.3. Familienkonflikte
In einer Familie wäre demzufolge ein Dauerkonflikt dann zu erwarten, wenn für ein oder mehrere Familienmitglieder keine befriedigende Möglichkeit besteht, im Umgang mit einem oder mehreren anderen Familienmitgliedern Motive zu befriedigen, deren Befriedigung der Betreffende von früher her gewohnt war. Ich unterscheide hier im Folgenden zwei verschiedene Konfliktarten:

A. Konflikte als Ausdruck mangelhafter Komplementarität
B. Konflikte als Ausdruck früherer unvollständiger Motivverzichte.

In der klinischen Praxis scheint eine Legierung beider Arten am häufigsten vorzukommen.

A. Konflikte als Ausdruck mangelhafter Komplementarität
Als Beispiel gelte Familie Huber: Die Eltern hatten in ihrer Herkunftsfamilie jeweils eine jüngere Schwester, zusammen haben sie einen Sohn und eine Tochter: b(s)/bs/s(s). Die Eltern haben miteinander einen Rangkonflikt, jeder verlangt vom anderen Unterordnung, sie haben identische Geschwisterpositionen. Frau Huber hat mit ihrem Mann zudem einen Geschlechtskonflikt, da sie in ihrer Familie auf den Umgang mit Männern weniger vorbereitet wurde. Zu ihrem Sohn hat Frau Huber eine ähnlich konfliktgeladene Beziehung wie zu ihrem Mann (Rang- und Geschlechtskonflikt), während die Beziehung zu ihrer Tochter komplementär ist. Die Tochter kann sich dadurch aber schlechter mit der Mutter identifizieren (Identifikationskonflikt). Vater und Sohn stehen miteinander dagegen in einer Identifkationsbeziehung, Vater und Tochter in einer komplementären Beziehung. Besonders Frau Huber kann demnach in dieser Familie frühere Erfahrungen nicht so gut anbringen wie ihr Mann.
Bei dieser Art familiärer Konflikte (Rang- und Geschlechtskonflikte) liegt also die eigentliche Deprivation einzelner Familienmitglieder in der aktuell vorzufindenden geringen Komplementarität der Beziehungen, d.h. die einzelnen Familienmitglieder (besonders die Eltern) kommen miteinander nicht aus, obgleich sie aus ihren früheren Familien keine gravierenden traumatisierenden Bedingungen mitbringen. Es sei hier im übrigen noch auf die bereits recht zahlreich vorhandenen empirischen Bestätigungen der oben beschriebenen Sachverhalte hingewiesen (TOMAN, 1968, 1974; TOMAN und PREISER, 1973; TOMAN, GASCH, U. und SCHMIDT, H.-R., 1972).

B. Konflikte als Ausdruck früherer unvollständiger Motivverzichte
Im Falle früherer (besonders frühkindlicher) unvollständiger Motivverzichte eines oder beider Eltermeile einer Familie kann der Umgang miteinander oder mit einem oder mehreren Kindern im Sinne der oben beschriebenen Versuchungssituation für den Betreffenden angst-aggressions-auslösend wirken. Ein Vater, der als Kind übermäßig streng und "brav" erzogen wurde (der also auf Motive wie dorninant sein, großzügig sein und dgl. unvollständig verzichtet hat), kann in Panik geraten, wenn er bei seinem Sohn Ansätze in der Richtung beobachtet, die ihm selbst als Kind streng verboten war. Er wird entweder übermäßig streng reagieren (so wie seine eigenen Eltern früher) oder ins Gegenteil umkippen (Reaktionsbildung) und den Sohn in dieser Richtung übermäßig ermuntern. Oder er geht vielleicht aus dem Felde, indem er die Erziehung völlig seiner Frau überlässt. Auf jeden Fall bringt sein eigener unvollständiger Verzicht mit sich, daß er zu seinem Sohn kein angstfreies Verhältnis entwickelt.

Die Voraussetzungen dafür, daß unvollständige Motivverzichte aus der Kindheit der Eltern den Kontakt zu ihren Kindern beeinflussen, sind bei demjenigen Kind besonders günstig, das dem betreffenden Elternteil in Geschlecht und/oder Altersrang ähnlich ist. In diesem Fall sind die Möglichkeiten für eine wechselseitige Identifikation zwischen Elternteil und Kind günstig. Das Elternteil erkennt unbewußt sich selbst im Kind und kann durch dessen Verhalten an eigene früher deprivierte Motive erinnert werden, was Sekundärangst auslöst. Etwas Ähnliches meint RICHTER, wenn Eltern aus ihrem Kind einen Sündenbock oder ein Substitut für ihr eigenes Selbst machen (RICHTER, 1969).

Individuelle und gemeinschaftliche Motivverzichte können durch sehr viele reale Lebensumstände erforderlich werden. Besonders wichtig scheinen frühe Personenveriuste zu sein (LANGENMAYR, 1975a und b), aber auch uneheliche Geburt, wirtschaftliche Not, häufiger Wohnsitzwechsel - um wahllos einige herauszugreifen - haben ihre Auswirkungen (s. besonders TOMAN und PREISER., 1973). Man kann Familienkonflikte auch im Hinblick darauf unterscheiden, ob sich ein Problem allein innerhalb der Familie oder nur in außerfamilären Bereichen (Schule, Arbeitsplatz) oder sowohl inner- als auch außerfamiliär auswirkt. Probleme, die zunächst rein außerfamiliär angesiedelt scheinen, haben meist auch eine innerfamiliäre Quelle. Wenn der Sohn aus Familie X in der Schule durch seine Aggressivität gegenüber dem Lehrer auffällt, hat die Familie zunächst noch keine Einsicht darin, daß dieses Verhalten des Sohnes in einem Identifikationsproblem mit seinem Vater wurzelt. Seine Beziehung zum Lehrer wird sich erst dann dauerhaft bessern, wenn die innerfamiliären Probleme gelöst sind.

Natürlich darf der Einfluß außerfamiliärer Ereignisse auf das Familienleben nicht übersehen werden. Wenn Herr X in der Firma Probleme hat, die in der Firma selbst begründet sind und ihn um seinen Posten fürchten lassen (eine angespannte Wirtschaftslage), so leidet seine Familie darunter mit. In diesen Fällen kann der Familientherapeut natürlich nicht die allgemeine Wirtschaftslage verändern, das will er auch garnicht. Statt dessen liegt sein Ziel u.a. darin, die Familie zu bewegen, sich entweder an äußere Ereignisse besser anzupassen oder auf die äußeren Ereignisse selbst aktiv, flexibel und verändernd einzuwirken, was letzten Endes keinen Gegensatz darstellt: eine realitäts-angepaßte Familie kann nach außen hin besser aktiv werden als eine neurotisierte. Herr X könnte z.B. versuchen, durch Arbeit im Betriebsrat seine Lage zu beeinflussen, sich beruflich weiter zu qualifizieren, sich auf dem Arbeitsmarkt zu informieren, etc.

3. Familiendiagnostik

Zu Beginn der Therapie liegt das Augenmerk des Therapeuten hauptsächlich auf der Exploration und Datensammlung. Sobald erste diagnostische Annahmen bestehen, kann er diese als Interventionen einbringen. Diagnostik und Therapie verlaufen anfangs parallel nebeneinander her, der diagnostische Prozeß kommt aber im weiteren Verlauf rascher zum Abschluß als der therapeutische.

3.1. Datensammlung
Formal betrachtet besteht die Familiendiagnostik aus dem Gesamt so vieler individueller Diagnosen als Familienmitglieder da sind. Uber eine solch rein monadische Betrachtungsweise hinaus steht aber die Betrachtung der aktuellen innerfamiliären Personbeziehungen vor dem Hintergrund früherer Personbeziehungen im Mittelpunkt.

Relevante Daten, auf die sich die Diagnose stützt, sind in erster Linie diejenigen der Familienkonstellationen, also Alter und Geschlecht der Person; Zahl, Alter und Geschlechtsverteilung ihrer Geschwister; Alter ihrer Eltern; Zahl, Alter und Geschlechtsverteilung der Geschwister der Eltern; Personenverluste der Person und ihrer Eltern; Freundschaften etc. (s. TOMAN und PREISER, 1973). Abgeleitet von diesen objektiven und reliablen Primärdaten lassen sich Rang- und Geschlechtskonflikte bzw. die Grade der Komplementarität sowohl der Elternehe als auch der Eltern-Kind-Beziehungen ermitteln. Über diese Primärdaten hinaus sind alle übrigen leicht zu erhebenden und objektiven Lebenslaufdaten der Familienmitglieder natürlich ebenfalls wichtig. Die Zahl und Art durchgemachter Krankheiten, Schulwechsel, Ortswechsel, ausgebliebene Beförderungen, Fehlgeburten bei der Mutter seien nur einige wahllos herausgegriffene. Um solche Daten zu erheben wird kein "Test" benötigt, dessen Aussagezweck der Person verborgen bleibt. Sie können vielmehr entweder im Gespräch erfragt oder mit Fragebogen erhoben werden. Weitere relevante Daten, die zwar weniger objektiv sind und im Einzelfall erst vor dem Hintergrund "härterer" Lebenslaufdaten interpretierbar sind, sind Äußerungen von Personen über andere Menschen, wie: "meine Mutter war streng" oder: "der Lehrer kann mich nicht leider", oder auch Äußerungen über den Therapeuten selbst (Übertragungen). In solchen Fällen kann man zunächst nicht ohne Weiteres wissen, ob es sich dabei um reale (d.d. von Dritten bestätigbare) oder einseitig empfundene (übertragene) Sachverhalte handelt.

3.2. Unvollständige Motivverzichte
Eine individuelle Diagnose muss in jedem Fall eine Aussage machen über Art und Weise individueller Motivverzichte. Handelt es sich um einen Konflikt der oben beschriebenen Art A, dann wird der unvollständige Verzicht in der Regel erst in der momentanen Familie verlangt. Hierfür wieder ein Beispiel: befragt der Therapeut die oben beschriebene Familie Huber (bzw. die Eltern) nach ihren früheren Erfahrungen in ihren Familien, so ergeben sich keine gravierenden Umstände, die auf unvollständige Motivverzichte schließen ließen. Herr Huber schildert seinen Umgang mit seiner Schwester etwa so: man habe so gestritten, wie Geschwister eben streiten. Meist habe seine Schwester sich von ihm etwas sagen lassen und ihn auch um Rat gefragt bei Schulfragen. Teilweise habe er gemeint, sie werde zu sehr verwöhnt. Er könne nicht sagen, dass seine Schwester von den Eltern insgesamt vorgezogen worden sei, er sei eben der Ältere gewesen und musste öfter auf sie aufpassen. Wenn sie allerdings den "Besserwisser" habe spielen wollen, habe er sie schon zurechtgerückt. Er habe seiner Schwester gern geholfen und ihr einen Gefallen getan, wenn sie ihn darum bat. Auch im Hinblick auf seine Eltern berichtet Herr Huber nichts Außergewöhnliches. Nach seiner Beziehung zu seiner Ehefrau befragt, erzählt er, daß diese sich sehr ungern von ihm etwas sagen ließe. Oft gebe es Streit, der erst abklinge, wenn man sich aus dem Wege gehe. Seine Frau sei ihm zu unnachgiebig und starrsinnig; seine Tochter sei da anders, sie ähnele mehr seiner Schwester als seiner Frau.

Man könnte dieses Beispiel aus der Sicht von Frau Huber und auch aus der Sicht der Kinder weiterführen. Hier sei noch hervorgehoben, daß beide Eltern weder frühkindliche Verluste noch auffällige Besonderheiten aus ihren früheren Familien berichten. Beide sind allerdings von ihren früheren innerfamiliären Erfahrungen her bestimmte Rollen gewohnt, deren Nichtweiterverfolgung in ihrer Ehe sich nachteilig auf ihre Kinder auswirken kann: im Umgang mit einem oder beiden Kindern könnten die Eltern versuchen, ihren Rang- und teilweisen Geschlechtskonflikt aus der Welt zu schaffen, d.h. frühere Sozialbeziehungen bei den Kindern fortzusetzen, nachdem ihre Weiterführung beim Ehepartner erschwert ist. In unserem Beispiel könnte dies so aussehen, dass beide Eltern versuchen, ihre jüngste Tochter zu dominieren, während Frau Huber mit ihrem Sohn den Konflikt austrägt, den sie mit ihrem Mann hat.

Im Falle eines Konfliktes vom Typ B wurden bei einem oder beiden Elternteilen schon in deren früheren Familien gravierende Motivverzichte erzwungen. Untersuchungen sprechen dafür, daß sich Partner bevorzugt u.a. dann heiraten, wenn sie beide frühkindliche Verluste erlitten haben (LANGENMAYIR, 1975a). Der familiäre Konflikt, dessentwegen sich die Familie vorstellt, stellt damit im Grunde nur eine Wiederholung oder Reaktivierung alter Konflikte dar. Auch hierfür ein Beispiel: Herr Meier litt als ältestes von drei Kindern sehr unter seinem trunksüchtigen Vater, der sich als Despot aufführte und keine andere Meinung neben sich tolerierte. Herr Meier fürchtete seinen Vater als Kind sehr. Er fühlte sich ihm ausgeliefert und unterlegen. Manchmal hasste er ihn stark, besonders wenn er auch die Mutter schlug. Herr Meier heiratete eine Frau, die selbst die älteste von vier Kindern war, die aber keine besonders schlechten Erfahrungen aus ihrer Kindheit mitbringt. Obwohl beide Eltern in ihrer Ehe einen Rangkonflikt haben, kommen sie zunächst gut miteinander aus, da sich Herr Meier meist den Wünschen seiner Frau anpasst. Beide bekommen nun einen Sohn und eine jüngste Tochter. Es stellt sich heraus, dass Herr Meier nach Meinung seiner Frau ein schlechtes Verhältnis zu seinem Sohn entwickelt: er verwöhnt ihn über alle Maßen, läßt ihm alles durchgehen, sagt, sein Sohn solle es besser haben als er selbst es früher gehabt habe. Die Tochter beklagt sich bei der Mutter heftig über die Bevorzugung ihres Bruders durch den Vater. Die Mutter bittet ihren Mann, zum Sohn etwas konsequenter und strenger zu sein, worauf Herr Meier mit Wut reagiert.

In diesem (wiederum vereinfachten) Falle überträgt Herr Meier unwillkürlich seine eigene gestörte Vaterbeziehung auf seinen Sohn, mit dem er sich leichter identifizieren kann als mit seiner Tochter (was Geschlecht und Rang betrifft). In seiner eigenen Kindheit musste Herr Meier darauf verzichten, sich mit seinem Vater zu messen, mit ihm zu rivalisieren und sich schließlich mit ihm zu identifizieren. Jedenfalls lehnte er eine Identifikation bewusst ab, obgleich man annehmen kann, daß er unwillkürlich eben doch nach seinem Vater geriet, denn außer diesem hatte er kein ähnlich dauerhaftes und intensives Vorbild. Als Ersatzmotivsystem für die ausgefallene Identifikationsmöglichkeit wählte Herr Meier eine Einstellung bzw. ein Selbstbild, das man so umschreiben könnte: "Ich bin ein friedliebender Mensch, ich hasse jede autoritäre Unterdrückung. Über die Sache mit meinem Vater bin ich hinweg."

Sobald aber im Umgang mit seinem Sohn die Erinnerung an seine unvollständig verzichteten Wünsche in bezug auf seinen Vater wieder auftauchen (z. B. wenn sein Sohn autoritäres Verhalten provoziert), reagiert Herr Meier unsicher, ängstlich. Er versucht, durch verstärkten Einsatz seiner bisherigen Ersatzmotive seine Unsicherheit zu beschwichtigen. Vielleicht errnuntert er seinen Sohn noch, sein Verhalten fortzusetzen. Man könnte auch sagen, Herr Meier "benutzt" seinen Sohn, urn eigene unvollständig verzichtete Motive doch noch zu befriedigen: so wie sein frecher Sohn wäre er gern auch gewesen. Diese Erziehungshaltung stellt für die Tochter und für Frau Meier eine primäre Deprivation dar, für den Sohn natürlich auch. Letzterer kann ja -wie sein Vater früher selbst- mit seinem Vater auch nicht rivalisieren bzw. dessen Grenzen austesten.

Bei der diagnostisch bedeutsamen Frage, um welche Motive es sich handelt, auf die eine Person unvollständigen Verzicht leisten musste, bieten sich zwei Wege der Klärung: Einerseits kann man über die Betrachtung der Ersatzmotive eine Vorstellung von den ausgefallenen Motiven erhalten, denn Ersatzmotive befriedigen ja laut Definition die ausgefallenen Motive mit. Sie stehen also in einer entwicklungsmäßigen Beziehung zueinander.

Andererseits (dieser Weg ist praktikabler) kann eine Beziehung zwischen Deprivation und dem motivationalen Entwicklungsstand einer Person angenommen werden. Anders ausgedrückt wird sich ein Mutterverlust bei einem Zweijährigen anders auswirken als bei einem Sechzehnjährigen. Hier hat sich das System der Psychopathologie der Psychoanalyse in Praxis und Forschung bewährt (z.B. FENICHEL, 1945; BOWLBY, 1972; TOMAN, 1973; LANGENMAYR, 1975 b). Dieses System muss hier als bekannt vorausgesetzt werden.

Es ist in der diagnostischen Praxis demnach wichtig, das Lebensalter einer Person zu wissen, in dem ein deprivierendes Ereignis eintrat, um von der motivationalen Besonderheit dieses Alters ausgehend die unvollständigen Verzichte allgemein und tentativ zu charakterisieren. Für die Annahme, dass auf Motive unvollständig verzichtet wurde, sprechen außer dem Verhalten der Person in ihrem späteren Leben nach dem deprivierenden Ereignis auch Variablen, die die "Schwere" einer Deprivation objektiv anzeigen (s. TOMAN, 1968). Je "schwerer" eine Deprivation, um so größer die Wahrscheinlichkeit eines chronischen unvollständigen Verzichtes.

Die Unterscheidung dieser beiden Hauptkonflikte geschieht hier in erster Linie aus theoretischen Gründen. In der Praxis findet man meist eine Legierung beider. Familien, in denen beide Elternteile aus ihrer Kindheit unvollständige Motivverzichte mitbringen (neurotische Partnerwahl), liegen therapeutisch schwieriger als Familien, in denen dies nicht der Fall ist und z. B. die Elternehe komplementär ist, nicht aber die Eltern-Kind-Beziehung. Anders ausgedrückt, die Prognose ist u.a. um so günstiger, je kürzer im gegenwärtigen Familienleben eine Deprivation zurückliegt.

3.3. Familiendiagnose
Unterteilt man die Merkmale "Elternehe", "Eltern-Kind-Beziehungen" und "unvollständige Motivverzichte'" je in Alternativklassen hinsichtlich Komplementarität bzw. Ausprägungsgrad, so erhält man sechs Alternativen, die sich wiederum zu acht Dreierkombinationen verbinden lassen:

Elternehe: komplementär: 1, nicht komplementär: 2
Eltem-Kind-Beziehung:
komplementär: 3, nicht komplementär: 4
Unvollstängige Motivverzichte:
ausgeprägt: 5, nicht ausgeprägt: 6
Kombinationen der sechs Klassen
: a) 245 b) 235 c) 145 d) 135 e) 246 f) 236 g) 146 h) 136

Die Dreierkombinationen sind von a) bis h) in eine Rangreihe gemäß der Konfliktbelastung der Familie gebracht. Kombination a) stellt sozusagen den schwierigsten Fall dar, bei einem oder beiden Elternteilen liegen ausgeprägte unvollständige Motivverzichte vor, die Ehe und die Eltern-Kind-Beziehungen sind nicht komplementär. Kombination e) stellt die reine Ausprägung der Hauptkonfliktart A dar, in der Ehe und in den Eltem-Kind-Beziehungen liegen Rang- und Geschlechtskonflikte, aber keine unvollständigen Motivverzichte aus der Kindheit der Eltern vor. Kombination d) stellt die Hauptkonfliktart B dar, es liegen allein ausgeprägte Motivverzichte der Eltern vor. Man könnte diese acht Kombinationen als acht Familiendiagnosen betrachten und die Unterscheidungen noch verfeinern. Momentan erscheint eine Anwendung in der Praxis noch nicht angeraten, weswegen man solchen Einteilungsversuchen wieder eher theoretischen Nutzen beimessen sollte.

3.4. Motivverzichte bei Kindern
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, daß Konflikte der Kinder in der Regel auf Konflikte der Eltern miteinander oder mit den Kindern zurückgehen. Durch
einen Ehekonflikt werden den Kindern (einem oder allen) Motivverzichte abgenötigt, die wieder unvollständig ausgehen kämen. Auch hier kann das System der Psychopathologie Aufschluss geben, wenn es um die Diagnose ausgefallener Motive geht. Umstände, die sich primär deprivierend auf die Kinder auswirken können, sind wieder z.B. fehlende Komplementarität der Elternelie oder der Eltern-Kind-Beziehung, fehlende Identifikationsmöglichkeit, Motivverzichte in der Kindheit der Eltern, Vater- oder Mutterverlust, Geschwisterverlust, Krankheit etc. Ersatzmotive (Symptome) der Kinder werden verstanden als Ausdruck der von den Eltern und/oder anderen Lebensumständen erzwungenen unvollständigen Motivverzichte.

 

4. Familientherapie
4.1. Einige Begriffsklärungen

Im Sinne der Familiensoziologie spreche ich dann von Familie, wenn Kinder aus einer Ehe hervorgehen oder in ihr angenommen werden und als eigene Anerkennung finden. Die Familie ist eine besondere Gruppe, in der ein (Ehe-)Paar mit seinen direkten Nachkommen lebt (Kernfamilie nach KÖNIG). In der Familie stellen Geschlechts- und Generationsdifferenzierung mit bestimmten Rollen die begründenden Faktoren dar (s. GRAU, 1973).

Unter Familientherapie verstehe ich eine Form der Psychotherpie, bei der eine Familie mit ihren innerfamiliären Personbeziehungen den Fokus der Therapie darstellt. Dabei ist es wünschenswert (aber keine Bedingung), dass außer dem "Patienten" auch noch andere Familienmitglieder entweder gemeinsam oder getrennt voneinander an der Therapie teilnehmen.

4.2. Therapieziele
Allgemeines Ziel einer Psychotherapie ist es, einem Menschen dabei behilflich zu sein, einen unvollständigen Motivverzicht entweder rückgängig zu machen oder ihn in einen vollständigen Verzicht zu verwandeln. Ein starker Raucher hätte z.B. dann vollständig auf sein Motiv "Rauchen'" verzichtet, wenn der erneute Eintritt von Situationen, in denen er früher dieses Motiv befriedigte (etwa nach einem guten Essen, wenn ihm Zigaretten angeboten werden oder wenn er seine Frau rauchen sieht), nicht mehr zum Rauchen, zum Verlangen danach oder auch nur zur Ersatzmotiven (etwa Kaugummikauen, auf das Rauchen schimpfen, essen) führt. Einen Motivverzicht rückgängig zu machen bedeutet, die (innere) Notwendigkeit zum Verzicht auf ein Motiv zu beseitigen, so dass das Motiv in Zukunft angstfrei und effektiver befriedigt werden kann. Als Beispiel sei an einen jungen Mann gedacht, der auf Grund
früher negativer Erfahrungen mit Frauen (Mutter, Schwestern, aber auch autoritärer Vater) Angst vor den Wünschen von Frauen an ihn hat. Er generalisiert einen als Kind sinnmachenden Motivverzicht, obwohl als Erwachsener gar keine Notwendigkeit dazu mehr besteht.

Wenn das Therapieziel darin besteht, einem Menschen dabei zu helfen, verloren geglaubte Gelegenheiten zu Motivbefriedigungen zumindest teilweise wiederzugewinnen oder auf sie in Zukunft besser zu verzichten als bisher, so muß die Therapiebezogenheit einer Diagnose Aufschluss über diese Motive verschaffen. In unserem Beispiel des Herrn Meier bestünde ein Therapieziel darin, seine Erinnerungen an seinen Vater wieder aufzufrischen, seine alten Motive nach Macht und Anerkennung wieder zu entdecken und so seine Beziehung zu seinem Sohn unbeschwerter leben zu lernen.

Familientherapie verfolgt das Ziel, jedem Familienmitglied Gelegenheit zu geben, sowohl über seine eigenen Motive als auch über deren Zusammenhang mit den Motiven anderer Familienmitglieder mehr zu erfahren. Dabei spielen Motivverzichte eine wesentliche Rolle. Es soll besprochen werden, welches Familienmitglied welchen Verzicht geleistet hat, weiterhin leisten oder revidieren sollte, wer dabei wie helfen könnte und welche Auswirkungen dies auf andere in der Familie hätte.

4.3. Zur Gesprächstechnik
Hauptaufgabe des Therapeuten ist es, in der Familie ein Gespräch in Gang zu bringen und zu halten. Die Gesprächsthematik liegt allein im Ermessen der Familie. Der Therapeut kann thematisch nur das aufgreifen, was die Familie explizit oder implizit bereits selbst angesprochen hat. Themen, bei denen die Familie oder einzelne Familienmitglieder Affekte äußern oder wo erwartete Affekte ausbleiben, registriert der Therapeut besonders und greift sie bevorzugt bei Gelegenheit wieder auf (TOMAN, 1968, S. 224 ff.).

Eine wichtige Regel besagt, daß von zur Auswahl stehenden Themen ein ontogenetisch früheres wichtiger für die Therapie ist als ein ontogenetisch späteres. In dieser Regel verdeutlicht sich das Interesse an der Geschichte oder Vergangenheit momentaner Motive. Um die innerfamiliäre Situation der Familienmitglieder zu verstehen, ist es notwendig, ihre frühere motivationale Entwicklung zu kennen. Bei den Eltern erstreckt sich diese Kenntnis, wie gesagt, bis auf ihre eigene Situation als Kinder bei ihren Eltern. Diese Kenntnis dient nicht nur dem diagnostischen Verständnis des Therapeuten, sondern sie stellt bereits einen wichtigen therapeutischen Schritt dar: die Familienmitglieder sollen ja voneinander auch lernen, wie sich die momentane Problemsituation aus bestimmten Gegebenheiten der Vergangenheit heraus entwickelt hat.

Therapeutische Interventionen beinhalten im Prinzip nichts anderes, als dass der Therapeut Motive der Familie oder einzelner ihrer Mitglieder in Worte fasst, und zwar nicht nur Motive, die von der Familie bereits selbst benannt wurden, sondern auch solche, die der Therapeut herausgehört zu haben glaubt, die er erschließen zu können glaubt. Solche Interventionen sind: Interpretationen und interpretative Kommentare, Konfrontationen, Reflektionen, passagere Identifikation (der Therapeut erläutert die Motive eines Familienmitgliedes für die anderen). Mit unvollendeten Sätzen und allgemeinen Interessebekundungen regt er zur Entfaltung eines Themas an ("Türöffner, wie: "aja .. .. "Können Sie mehr darüber erzählen?-, "seit wann geht das denn so?" etc.).

Bei jeder Interpretation muß der Therapeut überlegen, wie viel eine Familie damit anfangen kann. In der Regel ist eine Interpretation um so schwieriger zu verstehen (unter Umständen um so nutzloser), je älter die darin angesprochenen individuellen Motive ontogenetisch für den Klienten sind. Der Therapeut muß sich generell des Idioms des Patienten bedienen, um verstanden zu werden.

ln einer Familientherapie sollte der Therapeut lieber früher als später mit einfachen Interpretationen und Erklärungen herausrücken. Dies erscheint als größere Aktivität des Therapeuten, verglichen mit anderen Therapieformen. Die Richtigkeit einer Interpretation erkennt der Therapeut u.a. an der Reaktion der Familie auf sie. Auch dieser Umstand spricht dafür, Interventionen ruhig frühzeitig einzubringen. Alle seine Interventionen bringt der Therapeut für die Familie sowieso quasi unter der Überschrift "Irrtum vorbehalten".

Der Therapeut erteilt möglichst keine Ratschläge und verordnet kein selbsterdachtes "Rezept" oder "Programm". Manchmal muß er nach Art eines Moderators durch direkteres Eingreifen erst die Voraussetzungen für ein Gespräch schaffen. Ansonsten versucht er sich aber jeder direkteren Eingriffsmöglichkeit in die realen Lebensumstände der Familie zu enthalten. Er soll nicht agieren oder "mitspielen". Psychotherapie läuft nicht auf reale Hilfe hinaus.

4.4. Grob-Idealverlauf einer Farnilientherapie
Zu Beginn einer Therapie sprechen die Familienmitglieder in der Regel über ontogenetisch jüngere innerfamiliäre Motive, entweder ihre eigenen oder die anderer Familienmitglieder. Der Therapeut versucht, jede innerfamiliäre Zweierbeziehung diagnostisch zu klären, indem er Daten und Motive sammelt und sozusagen auf einen interpretativen Nenner bringt. Auf diese Weise erhält er die innerfamiliären Hauptmotive jedes Familimmitgliedes. So mag vieles, was ein Vater über sein Problem mit seinem Sohn berichtet, zusammengefaßt heißen: "Ich will unbedingt, daß du in der Schule bessere Leistungen erbringst, sonst habe ich keine Ruhe!" Wenn man für jede Beziehung, die ein Familienmitglied zu seinen anderen Familienmitgliedern hat, solch ein Hauptmotiv sucht, so ergeben sich in einer vierköpfigen Familie z. B. zwölf Hauptmotive, also für jedes der vier Familienmitglieder je drei in bezug auf seine anderen Familienmitglieder. Für n Familienmitglieder wären es allgemein n (n - 1) Hauptmotive.

Natürlich müssen die komplizierten Wechselwirkungen zwischen diesen Hauptmotiven in der Familie berücksichtigt werden. Hier kann man sich etwas helfen, indem man eine Einteilung nach dem familiengeschichtlichen Alter der Hauptmotive vornimmt und davon ausgeht, dass ältere Hauptmotive wiederum jüngere färben. So ist die Beziehung der Mutter zu ihrem Mann älter als diejenige zu ihrem Sohn, weshalb die erste Beziehung die zweite mitbestimmt.

Der Therapeut bringt seine Versuche, die Hauptmotive zu verbalisieren, recht schnell als vorläufige Interpretationen ein. Wenn dann einige der Hauptmotive sozusagen im Raume stehen, wird über ihren motivationalen Hintergrund zu sprechen sein. Ontogenetisch ältere, weniger bewußte und oft unvollständig verzichtete Motive, auf deren Hintergrund die Hauptmotive verständlicher werden, kommen immer mehr zur Sprache, je weiter die Therapie fortschreitet. Solche Motive nenne ich Dauermotive. Hauptmotive stellen also die Weiterführung von Dauermotiven dar. Dauermotive stammen aus der Kindheit und Jugend. Wenn in einem Motivbereich in der Kindheit keine stärkere Deprivation vorgelegen hat, dann läßt sich meist recht leicht erkennen, wie ein Dauermotiv in einem Hauptmotiv weiterwirkt: ein Schüler möchte z.B. Klassensprecher werden (sein Hauptmotiv), wobei er Dominanzmotive, die er im Umgang mit seinen jüngeren Geschwistern einübte (sein Dauermotiv) weiterführt.

Wenn aber stärkere Deprivationen vorliegen, ist der Zusammenhang nicht mehr so leicht zu erkennen. Er kann durch die bekannten Mechanismen wie Verschiebung, Projektion, Reaktionsbildung usw. verschleiert werden. Anders ausgedrückt haben in diesen Fällen Dauer- und Hauptmotive den Charakter von Ersatzmotiven. Ersatzmotive befriedigen unvollständig verzichtete Dauermotive.

Das Ansprechen solcher unvollständig verzichteter Dauermotive stößt oft auf stärkeren Widerstand in der Familie. Die Wiedererinnerung und das Benennen alter Enttäuschungen stellen Versuchungssituationen dar, die Sekundärangst (Widerstand) auslösen. Der Therapeut sieht aber eine seiner Hauptaufgaben darin, ältere Motive zur Sprache zu bringen, damit momentane Motive besser verstanden werden. Die Familienmitglieder sollen sich ja Aufschluß darüber verschaffen, welches in der jetzigen und in den früheren Familien ihre deprivierten Motive sind und waren.

Im Idealfalt verlaufen die Gespräche nach gewissen Phasen, die sich zwar nicht scharf voneinander abgrenzen lassen und auf deren Einhaltung der Therapeut explizit auch keinen Wert legt, an deren Ablauf sich aber für den Therapeuten der Fortschritt einer Familientherapie aufzeigen läßt:

In der ersten Phase (Erstgesprach und Anfangsphase) spricht die Familie über ihren aktuellen Konflikt, über ihren Vorstellungsgrund (Motto: was ist im Moment los). Jedes Familienmitglied spricht über seine von anderen Familienmitgliedern mehr oder weniger deprivierten ontegenetisch jüngeren Motive. Der Therapeut versucht, sich durch Exploration eine Vorstellung von den innerfamiliären Hauptmotiven jedes Famitienmitgliedes in Bezug auf die anderen Familienmitglieder zu machen.

In der zweiten Phase wird nach der Geschichte des Konfliktes gefragt (Motto: wie ist es dazu gekommen). Die Familie verfolgt die wichtigsten Hauptmotive retrospektiv. Es kommen auch Hauptmotive zur Sprache, deren Erwähnung bisher noch mit mehr Widerstand belastet war (emotionale Themen). Es werden mehr und mehr ontogenetisch ältere Motive angesprochen. Der Therapeut versucht, sich gemeinsam mit der Familie eine Vorstellung über den Zusammenhang von Dauer- und Hauptmotiven zu machen.

In der dritten Phase gewinnen die Familienmitglieder, besonders die Eltern, mehr und mehr Aufschluß (Einsicht) über den Zusammenhang zwischen ihren individuellen Dauer- und Hauptmotiven und den Motiven anderer Farnilienmitglieder (Motto: was ist mein/unser wirkliches Problem). Der Therapeut leistet Hilfestellung.

In der vierten Phase wissen die Familienmitglieder, besonders die Eltern, mehr über ihre gegenseitigen Wünsche und Erwartungen. Es erfolgt ein Ausblick auf die reale Zukunft (Motto; was können wir in Zukunft tun). Es wird versucht, für die Zukunft einen modus vivendi zu finden, bei dem alle Beteiligten zufriedener miteinander sind.

Unterden Begriffen "Einsicht" und "wissen" ist hier kein rein kognitiver Prozeß umschrieben, sondern eine (wenigstem ansatzweise) emotional-kognitive Wiederbelebung verloren geglaubter Gelegenheiten zu Motivbefriedigungen. Hierauf liegt, wie gesagt, das Hauptgewicht jeder analytisch orientierten Psychotherapie.

4.5. Übertragung und Gegenübertragung
Übertragungsprozesse spielen in der psychoanalytisch orientierten Therapie eine zentrale Rolle. Bekanntlich versteht man unter Übertragung einen Prozeß, bei dem jemand Wünsche und Gefühle, die er im Umgang mit Personen seiner Vergangenheit (besonders seinen Eltern) erworben hat, auf den Therapeuten überträgt. Der Therapeut fördert diese Ubertragung, indem er sich neutral bzw. abstinent verhält, d.h. er gibt möglichst wenig von seiner wirklichen Persönlichkeit preis. Andernfalls würde er nämlich gegenübertragen und könnte die Wünsche des Klienten nicht mehr auf Personen aus dessen Vergangenheit zurückführen. Er versucht, die Therapiesituation möglichst frei von seinen eigenen Wünschen zu erhalten, was natürlich ein Ideal darstellt.

In der Familientherapie kommen Obertragungsprozesse nie so deutlich zum Ausdruck wie in einer langen psychoanalytischen Einzeltherapie, besonders bei kurzen Familientherapien reicht die Zeit nicht aus. Andererseits hat die Familientherapie auch eine neue Übertragungsart entdeckt, nämlich diejenige des ganzen Farniliensystems (FRAMO, 1975).

Familientherapie kann den Therapeuten emotional stärker berühren als jede andere Therapieform. Die Erinnerung an die eigene Herkunftsfamilie kann leicht als Gegenübertragung in Erscheinung treten, die Therapie stören und die Klienten beeinflussen. Therapeuten bringen ja selbst z.B. eine bestimmte Geschwisterposition mit den entsprechenden Erfahrungen mit, sie scheinen auch aus auffälligeren Familienkonstellationen zu stammen als Angehörige anderer Beufe. Hierfür ist S. FREUD selbst das beste Beispiel: Als er geboren wurde, war er bereits Onkel, der Altersabstand zwischen seinen Eltern betrug zwanzig Jahre, seine Mutter war die zweite Frau seines Vaters (s. STRACHEY, J., in: FREUD, 1917). Die Beziehungen zwischen Familientherapeut und Farnilienmitgliedem lassen sich prinzipiell auch nach Rang- und Geschlechtskonflikten einteilen. Bei komplementären Beziehungen könnte zwar der Therapiebeginn leicht, der Abschluß (die Trennung) aber erschwert sein. Bei einem Identifikationskontakt (gleicher Rang, gleiches Geschlecht) wäre der Beginn vielleicht erschwert, der Abschluß aber leichter (TOMAN, 1968).

In einer Familie übertragen die Familienmitglieder auch untereinander. Hierin ähnelt die Therapie einer Gruppentherapie, wo die Gruppenmitglieder in Unkenntnis der übrigen Gruppenmitglieder wechselseitig auch stark Übertragungsverhalten produzieren. Komplizierter für den Therapeuten ist aber in der Familientherapie der Umstand, daß die Familienmitglieder sich keineswegs fremd sind und eine Menge reale Belege für die Richtigkeit ihrer wechselseitigen Beurteilungen aufzeigen können. Nichtsdestoweniger muss es die Aufgabe des Therapeuten sein, auch innerfamiliäres Übertragungsverhalten zu diagnostizieren und zu interpretieren, d.h. auf seine Quellen in der Vergangenheit zurückzuführen versuchen (s. hierzu auch WHITAKER, C. A. u. a., 1975).



5. Einzelheiten der Praxis

5.1. Wer wird eingeladen?
Eine der ersten Fragen ist die nach der Anzahl der einzuladenden Familienmitglieder, besonders, wenn es sich um eine größere Familie handelt. Bedenkt man, daß in einer vierköpfigen Familie unter Einbeziehung des Therapeuten bereits zwanzig individuelle Kommunikationsrichtungen bzw. Haupt- und Dauermotive berücksichtigt werden müssen, bei einer fünfköpfigen Familie bereits dreißig, so wird deutlich, wie schwierig, ja unmöglich es werden kann, solch ein Gespräch unter therapeutischer Kontrolle zu halten. Die Gefahr, daß der Therapeut unwillkürlich oder auf Grund einer eigenen Problematik subjektiv agiert, vergrößert sich, je unüberblickbarer die Situation für ihn wird. In einer Familientherapie ist die Gefahr für Gegenübertragungen ohnehin größer als in einer anderen Methode.

Ich neige daher dazu, die Zahl anwesender Familienmitglieder lieber klein zu halten. Zum ersten Gespräch lade ich Vater, Mutter und Problernkind ein, im Falle einer Zwei-Kind-Familie noch das andere Kind. Weitere Familienmitglieder sind damit nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Ihr Hinzuziehen liegt im Ermessen der Familie, die ihre Gründe dafür vorher mit dem Therapeuten besprochen hat.

Ein Co-Therapeut ist nicht anwesend, da durch ihn die Zahl möglicher Interaktionen nur noch steigen würde. Es kann aber ein "stummer" Protokollant anwesend sein, der der Familie als solcher vorgestellt wird. Dadurch kann der Therapeut sich noch ungestörter auf die Familie konzentrieren, er braucht das Gespräch nicht zu protokollieren. Diesen Effekt erreicht man aber auch durch eine Tonbandaufnahme mit Einwilligung der Familie. Allerdings ist diese Methode zeitraubender.

Wenn zum Erstgespräch nicht alle eingeladenen Personen erscheinen, sondern z.B. die Schwiegermutter mitgekommen ist oder (was weitaus häufiger vorkommt) der Vater nicht dabei ist, so muß der Therapeut dies hinnehmen. Er kann dies als eventuell wichtiges diagnostisches Datum verstehen. Wenn im Verlauf des Gespräches sich eine Möglichkeit bietet, kann er darauf zu sprechen kommen, um die näheren Hintergründe zu erfahren. Fehlt eine eingeladene Person, deren Interesse an den Gesprächen von den Anwesenden aber betont wird, kann man eine Terminverschiebung vorschlagen. Auf keinen Fall sollte der Therapeut in der Anfangsphase Druck auf eine Familie ausüben, ein bestimmtes Familienmitglied (den Vater z.B.) mitzubringen. Zumal wenn der Vater sich anfangs weigert, an der Therapie teilzunehmen, stellt man die übrige Familie damit vor eine prekäre Situation. Andererseits kann der Vater selbst aus dem Druck des Therapeuten (wenn ihm darüber zu Hause berichtet wird) Falsches ablesen, vielleicht fühlt er sich als Sündenbock hingestellt. Es läßt sich sagen, daß eine Familientherapie auch Erfolg haben kann, wenn man nur mit einem Elternteil arbeitet. In Fällen, in denen der anwesende Elternteil in Wirklichkeit die Anwesenheit des anderen dauernd sabotiert, aber als dessen Desinteresse hinstellt, kommt man im Verlauf der Therapie unweigerlich auf diese Situation zu sprechen, ohne damit einen direkten Druck auszuüben.

5.2. Zusätzliche Diagnosehilfen

Die häufigsten diagnostischen Schritte in der Praxis von Erziehungsberatungssteilen sind die ärztlichen und testpsychologischen Untersuchungen gewesen. Obwohl beides im Rahmen der Arbeit mit Familientherapie keine Routine mehr darstellt, kann man doch in einigen Fällen nicht darauf verzichten.

Derartige Untersuchungen wirken sich auf den Ablauf der Therapie dann am wenigsten störend aus, wenn sie gleich nach dem Erstgespräch, also noch vor Beginn der eigentlichen Therapie, angesetzt werden. Bietet ein Kind im Erstgespräch Hinweise auf eine hirnorganische Störung, so wird derTherapeut versuchen, auch Daten zu sammeln, die hierüber näheren Aufschluß geben können (Geburt verfrüht oder verspätet, besondere Umstände vor, während oder nach der Geburt bei Mutter und Kind und dgl.). Zur exakten Abklärung setzt er anschließend eine pädiatrische Untersuchung an, die er nicht selbst durchführt (falls der Therapeut ein Arzt sein sollte), sondern eine andere Fachperson, die den Eltern auch die Diagnose erläutert.

Auch eine obligatorische testpsychologische Untersuchung ist nicht nötig. Nicht Testdaten, sondern in erster Linie Lebenslaufdaten stellen das diagnostische Material dar. In einigen wenigen Fällen, in denen es dem Therapeuten dennoch sinnvoll erscheint, eine solche Untersuchung anzusetzen, wird ähnlich wie oben verfahren. Bei Vorliegen eines hirnorganischen Verdachtes ist auch die Auswirkung auf psychische Funktionen wichtig.

In denjenigen Fällen, in denen die Familie während der Therapie eine ärztliche oder testpsychologische Untersuchung verlangt, handelt es sich nach meiner Erfahrung in der Regel um ein bestimmtes Übertragungsverhalten der Familie bzw. um einen Ausdruck innerfamiliären Widerstandes, dem der Therapeut nicht unreilektiert nachgeben darf. Die Regelung, Zusatzuntersuchungen - wenn überhaupt - gleich im Anschluß an das Erstgespräch und bei einer anderen Person als beim Therapeuten durchzuführen, würde die Möglichkeiten für den Therapeuten, seine Gegenübertragung zu kontrollieren, einigermaßen erhalten und ihn für die Familie weiterhin als allparteiliche Person erscheinen lassen.

Manche Therapeuten setzen dann eine Testung an, wenn sie diagnostisch ratlos sind, "blinde Flecken" haben. Leider bringen in diesen Fällen psychologische Tests auch nur selten eine Erhellung. Die sorgfältige Betrachtung der vorhandenen Familien- und Lebenslaufdaten unter Supervision verschafft rascher Klarheit.

5.3. Das Therapieangebot

Im Anschluß an das Erstgesprich macht der Therapeut der Familie ein Therapieangebot. Darunter fällt die Ansicht des Therapeuten, dass Familientherapie der Familie weiterhelfen kann, sowie eine Erläuterung der Regeln, die beide Seiten einzuhalten haben: es werden vorläufig fünf weitere Gespräche vereinbart, die um weitere Gespräche verlängert werden, wenn die Familie es wünscht. Will sie vor Ablauf der ersten fünf Gespräche beenden, so ist ein Abschlußgespräch empfehlenswert. In der Zeit während der Therapie sollte die Familie keine wichtigen Entscheidungen treffen, die das Problen irgendwie tangieren, ohne sie vorher in der Therapie besprochen zu haben.

Die Termine sind so zu vereinbaren, daß die Familie stets in derselben Zusammensetzung anwesend sein kann. Fehlt ein Familienmitglied, fällt das Gespräch in der Regel und wenn nichts anderes vereinbart war, für alle aus.

Während der Therapie sollte eine Familie nicht parallel in einer anderen Therapie sein, auch nicht einzelne ihrer Mitglieder, obgleich man hier Ausnahmen machen kann, indem ein gemeinsames Vorgehen zwischen den Therapeuten erarbeitet wird.

Soll ein zusätzliches Familienmitglied nach Meinung der Familie hinzugezogen werden oder ein bisher Anwesender ausgeschlossen, so ist dies auf jeden Fall vorher mit dem Therapeuten zu besprechen.

Natürlich sind auch etwaige Kostenfragen vorher zu besprechen. In den kostenfreien Erziehungsberatungsstellen ist daran aber noch keine Therapie gescheitert.

Fünf Gespräche sind zur Aufarbeitung vieler Familienprobleme natürlich eine viel zu kurze Zeit und auch etwas willkürlich gewählt. Wünschenswert ist immer eine Verlängerung um weitere fünf Stunden (es handelt sich übrigens um Stunden ä 60 Minuten). Man könnte durchaus gleich von Anfang an 10 Stunden vorgeben, die Erfahrung scheint aber zu zeigen, daß damit viele Familien überfordert sind. Anderen wurde bereits mit 5 Sitzungen geholfen.

5.4. Das Therapiezimmer

Die Familie sitzt mit dem Therapeuten um einen runden Tisch, so daß sich alle sehen können und rein von der Sitzordnung her keine hierarchischen Strukturen aufgezwungen werden. Der Therapeut überläßt der Familie in freier Wam ihre Sitzordnung. Er setzt sich als letzter auf den Platz, der ihm sozusagen von der Familie zugewiesen wird.

Das Zimmer sollte ein etwas wohnliches Büro sein, wenn man kein reines Besprechungszimmer zur Verfügung hat (ohne Arbeitsecke mit Schreibtisch, Schreibmaschine etc.). Für Kinder müssen Papier, Buntstifte oder Klötze auf dem Tisch bereitliegen. Auf dem Boden kann ein Auto, ein Teddybär oder dgl. liegen. Das Spielangebot sollte insgesamt nicht groß sein, sonst ergibt sich rasch eine Art Kindergartenatmosphäre, in der die Kinder dazu animiert werden, aus dem Gespräch zu flüchten. Auch die Eltern benutzen das Angebot häufig, um aus dem Gespräch "auszusteigen", um zu agieren. Für den Therapeuten ist es dann nicht leicht, dies mit der Familie aufzuarbeiten, wo er doch selbst (aus der Sicht der Familie) für das Spielangebot gesorgt hat. Es besteht auch die Gefahr für Gegenübertragungen bzw. die Provokation von Übertragungen von seiten der Familie, wenn der Therapeut Spielzeug bereithält, auf das die Eltern in einer problemspezifischen Weise reagieren könnten. Wenn z.B. eine zwanghafte Mutter sieht, wie ihr Kind tüchtig im Sand mit Wasser panscht, könnte sie den Eindruck gewinnen, der Therapeut selbst ist gar nicht so auf Sauberkeit aus wie sie selbst, er wird sie wohl kaum verstehen können. Statt dessen könnte er von ihr erwarten, so zu sein wie er es ihr vormacht. Entweder sie zwingt sich dann (dem Therapeuten zuliebe), weniger penibel zu sein, oder sie reagiert mit starkem Widerstand. In beiden Fällen hätte sie ihre Zwanghaftigkeit aber nicht durchgearbeitet.

Es kommt, kurz gesagt, in einer Therapie weniger darauf an, was der Therapeut denkt, sondern mehr darauf, was die Familienmitglieder denken. In der Einrichtung des Zimmers kommt aber für die Familie eine Menge der Gedanken und Einstellungen des Therapeuten zum Ausdruck.

Wäre das Spielangebot allzu verlockend, käme auch ein Therapieziel unter Umständen nicht zum Tragen: Während zu Beginn einer Familientherapie die Eltern vorwiegend über das Problemkind sprechen, kommen sie zunehmend auf andere Personbeziebungen zu sprechen, bevorzugt auf die zwischen ihnen beiden. Dies ist ganz im Sinne der Therapie. Die Elternbeziehung ist ja ontogenerisch älter als die Eltern-Kind-Beziehung und daher wichtiger für den Fortgang der Therapie (etwa in der dritten Phase unseres Schemas). Je mehr die Partnerbeziehung der Eltern in den Vordergrund rückt, um so mehr sind die Kinder aus dem Gespräch entlassen. Sie werden sich anfangs (oft dennoch sehr aufmerksam lauschend) daher selbst beschäftigen (zeichnen, spielen), ohne das Gespräch der Eltern zu stören. Später äußern die Eltern den Wunsch, die weiteren Gespräche ohne die Kinder abzuhalten. Dieser Prozess ist durchaus erwünscht. Er zeigt, daß der Familientherapeut auch ein Ehepaartherapeut sein muß. Wenn das Spiel des anwesenden Kindes aber die Eltern stark ablenkt, wird sich der Eintritt dieser Ehepaartherapie unnötig verzögern und damit die ganze Therapie. FRAMO spricht in diesem Zusammenhang von der wichtigen "Trennung der Generationen" innerhalb einer Familientherapie (FRAMO, 1975). Diese Trennung muss sich aber als einvernehmlicher Prozess entwickeln, sie wird nicht einseitig vom Therapeuten verlangt. Wenn der Therapeut irgendwelche technischen Hilfsmittel verwendet (Tonband, Video, Einwegscheibe), muß er sich grundsätzlich die Erlaubnis der Familie dazu einholen. Er wird auf seine Schweigepflicht hinweisen.

5.5. Therapieerfolg und -misserfolg
Die Kontrolle von Therapieeffekten gehört mit zu den Zukunftsaufgaben der klinischen Forschung. In der sehr allgemeinen Formulierung, daß sich Therapieerfolge im Wiedergewinnen verloren geglaubter Gelegenheiten zu Motivbefriedigungen ausdrücken, ist beinhaltet, daß auf lange Sicht Verhaltensänderungen, die von Dritten bestätigt werden, das Ziel sind. Selbsteinschätzungen der Klienten oder Einschätzung durch den Therapeuten allein genügen nicht, obgleich sie auch wichtige Aufschlüsse geben können. Bevor man überhaupt an Erfolgsmessungen herangeht, muß definiert sein, was unter Erfolg verstanden werden soll, mit welchen Kriterien er belegt wird und welche theoretische Ausrichtung dahinter steht.

Aus amerikanischen Kliniken wird berichtet, daß zwischen 30 und 60 % der Klienten die Therapie abbrechen, ohne dies vorher mit dem Therapeuten besprochen zu haben. Nach meinen Erfahrungen kann mm zwei Hauptfehlerquellen auf der Seite des Therapeuten unterscheiden, derentwegen Familien eine Therapie vorzeitig abbrechen:

Im Falle a) kann es passieren, daß der Therapeut zu rasch auf die Ehepaarbeziehung zu sprechen kommt, während die Eltern lieber noch über ihre Eltern-Kind-Beziehung sprechen wollen. Oder der Therapeut kontrolliert seine Gegenübertragungstendenzen nur ungenügend, indem er Missbilligung, Unverständnis und Abwertung äußert. In diesen Fällen fehlt die wichtige Vertrauensbasis zwischen Familie und Therapeut, ohne die keine Interpretation viel nützen kann.

Im Fall b) passiert eher das Gegenteil. Der Therapeut ist ängstlich darauf bedacht, die Familie nicht zu provozieren oder zu ängstigen. Ohne es zu merken, beginnt er "mitzuspielen", er wird quasi eine Art Familienmitglied. Eine Zeitlang ist die Familie (je nach Fall) damit sehr zufrieden. Auf die Dauer bringt es ihr aber nicht viel Neues, so dass sie abbricht. Dies nicht ohne Schuldgefühle gegenüber dem "netten" Therapeuten, den man dann mit einem Geschenk zufriedenstellen möchte.

Eine gute Psychotherapie kann nicht ohne eine gewisse Angsterzeugung auf seiten des Klienten gelingen. Unter Umständen muß aus "neurotischem Leid gemeines Leid werden" (FREUD). Es gibt wohl keine wesentliche Verhaltensänderung beim Menschen ohne auch unangenehme emotionale Begleiterscheinungen. Die angenehmen emotionalen Begleiterscheinungen aufgrund der erzielten Fortschritte müssen aber überwiegen, um einen Abbruch zu vermeiden.

Neben diesen beiden Fehlerarten gibt es natürlich noch eine Menge anderer. Viele davon lassen sich aber unterordnen unter den Begriff: mangelhafte Kontrolle der Gegenübertragung. Die Ausbildung zum Therapeuten muß daher hier ihren Schwerpunkt sehen. In der Alltagsprayis muss der Familientherapeut in Supervision durch Kollegen sein. Familientherapie ist ohne Teamarbeit nur schlecht möglich.

6. Ein Erstgespräch
(Nach einer Videoaufzeichnung, verkürzt.)

6.1. Vorinformation

Frau B. meldet ihren Sohn Theodor, geboren am 29.9.1963, wegen allgemeiner Erziehungsschwierigkeiten und Schulproblemen in der Erziehungsberatungsstelle an. Theodor besucht die erste Klasse des Gymnasiums. Er hat noch eine jüngere Schwester, Babette, geboren am 5.8.1966.

Zum Erstgespräch werden außer Frau B. und Theodor auch Babette und Herr B. eingeladen. Herr B., geboren 1932, ist Diplomingenieur. Frau B., geboren 1937, ist Hausfrau und war früher Sekretärin. Heiratsjahr der Eltern ist 1962

Der Vergleich der bis hier bereits bekannten Farmliendaten (Alter der Eltern, Alter bei der Heirat, Altersabstand voneinander, Berufe, Ehedauer bis zum ersten und zweiten Kind, Kinderzahl, Altersabstand der Kinder voneinander etc.) mit Vergleichsdaten in der Bevölkerung (s. TOMAN und PREISER, 1973) zeigt, daß es sich um keine auffällige Mittelstandsfamilie zu handeln scheint. Der Vater ist lediglich um zwei Jahre älter als der Durchschnitt, verglichen mit seiner Frau (durchschnittlicher Altersabstand zwischen Mann und Frau drei Jahre)

(Im folgenden bedeuten: V = Herr B., M = Frau B., T = Theodor, B Babette, Th = Therapeut. Die eingestreuten Kommentare sind eng gesetzt.)
Th: Was die Familie herführe?

(Es handelt sich im folgenden nicht um direkte, sondem indirekte und auf das Wesentliche verkürzte Rede.

M: jetzt in den Schulferien könne man sich gar nicht vorstellen, was sich bei ihnen zu Hause während der Schulzeit meistens abspiele. Es handete sich um T. Sie wünsche sich, daß er mit mehr Elan an die Hausaufgaben herangehe, nachdem er sich etwas von der Schule ausgeruht habe. Anschließend könne er spielen gehen, damit er abends körperlich müde sei und nachts gut schlafe. Statt dessen zögen sich die Hausaufgaben aber bis 7 und 8 Uhr abends hin, dann wolle er auch noch spielen und so werde es oft 9 und 10 Uhr, bis er ins Bett komme. Morgens sei er dann müde, könne in der Schule nicht aufpassen und am Nachmittag gehe der Kreislauf weiter. Der reinste zirculus vitiosus!

V: Sein Sohn sei eben ein sehr eigenwilliger Mensch. Aus eingesessenem Oppositionsgeist tue er immer das Gegenteil von dem, was man von im verlange. Das stecke von Grund auf in ihm drin.

Th: Es gäbe also Schwierigkeiten, wenn man wolle, daß er tue, was man sich vorstelle?

Besser wäre gewesen, wenn der Therapeut die Eltern persönlich angesprochen bitte, anstatt "man" zu sagen.

M: ja. In der Schule gebe es nur kleinere Beanstandungen, im allgemeinen sei er dort ruhig und zurückhaltend. Er melde sich kaum. Der Lehrer meine, er träume viel.

T: Er melde sich halt wenig, und das fasse der Lehrer als Träumen auf!

Theodor, der neben seiner Schwester gegenüber seiner Mutter sitzt, führt dies als Verteidigung gegen die Mutter an. Der Vater sitzt zwischen Mutter und Theodor und hat bisher der Mutter das Wort überlassen.

M: Ihr gehe es auf die Nerven, wenn T bei einer Sache, die in dreißig Minuten zu erledigen sei, vier bis fünf Stunden da hocke. Sie erwarte von ihm mehr Ehrgeiz für die Schule und weniger für Basteln und Spielen. Er suche auch wenig Kontakt zu Kameraden, spiele lieber mit B und deren Freundinnen.

Die Mutter hat einen klagenden Tonfall, wirkt gebremst fordernd, ratlos.

Th: Für sie sei Ehrgeiz wichtig?

Diese Frage ist an alte gerichtet, der Therapeut schaut dabei niemanden persönlich an.

V: Ja. Aber T sei eben ein eigenwilliger Charakter. Schon als kleiner Junge wollte er nicht laufen lernen oder er schob sich beim Radfahren mit den Füßen, anstatt zu treten.

Der Vater, der sich nun angesprochen fühlt, sagt dies in einem vorwurfsvoll-empörten Ton.

T (erstaunt): Was, er habe nicht treten wollen?

Th: Das sei schon lange her. Der V scheine sagen zu wollen, daß der Eigenwillen bei T praktisch angeboren sei. Von wem T das denn habe?

(Allgemeines Lachen.)

B: Das habe T bestimmt vom Papi. Oder von der Omi. M: Wiese von der Orni?

V: Es sei wohl angeboren ...
Th: B meine, T habe es vom Papi ...
M: Es sei aber auch Erziehungssache ...
B: T bastele lieber Schiffchen als zu lernen.

T (wütend zu B): Sie solle nur warten, sie werde hier auch noch auseinandergenommen!

Der Therapeut interpretiert hier die Äußerung des Vaters in einem etwas anderen Sinn als es der Vater wahrscheinlich gemeint hat: dieser wollte wahrscheinlich zum Ausdruck bringen, daß die Eigenwilligkeit des Jungen etwas Angeborenes, Unveränderbares sei, etwas, was nichts mit innerfamiliären Beziehungen zu tun habe. Mit seiner Frage, von wem Theodor dies denn habe, bringt der Therapeut die innerfamiliare Dynamik wieder ins Spiel. Alle beginnen, sich Gedanken zu machen. Babette und Mutter scheinen sich einig, daß der Vater hier eine Rolle spiele. Dieser sieht es als angeboren, d.h. ich-fern, was ihn selbst betrifft.

Th: Es scheine besonders Schwierigkeiten zu geben, wenn die Eltern Leistungen verlangen. (Zu T): Wie es ihm da ergehe?

Hier hätte der Therapeut obiges Thema besser weiter verfoplgt, statt sich durch den kleinen Ablenkungsstreit der Kinder beeindrucken zu lassen. So hätte er aufgreifen können: Theodor habe es vom Vater, meine Babette. Sein bereits erfolgtes Aufgreifen dieser Außerung wurde ja (geflissentlich?) überhört.

T: Es ärgere ihn immer, wenn die alles besser wüssten!

V (erregt): Das sei wieder so ein typisches Beispiel: das Ei wolle klüger sein als die Henne!

In dieser väterlichen Äußerung, die mit Emotion kommt, deutet sich so etwas wie ein Dominanz- oder Rangproblem zwischen Vater und Sohn in. Der Vater scheint sich manchmal seinem Sohn (und anderen?) unterlegen zu fühlen.
M: Es koste sie viel Kraft, T immer zu den Aufgaben anzuhalten. Obgleich er alt genug sei, arbeite er nicht intensiv.genug. Es gebe bei ihnen zu Hause deshalb viel Streit. Sie habe schon daran gedacht, die Hausaufgabenerledigung an eine neutrale Person zu übergeben, ihn in ein Paukstudio zu schicken.

Th: Was man dazu meine?

Die Mutter spricht hier den Therapeuten indirekt um seinen Rat an. Sie will wissen, was er von ihrer Idee mit dem Paukstudio hält. Anstatt ihr direkt zu antworten und sich und der Familie damit die Möglichkeit zu erschweren, das Problem auszuweiten und erschöpfend darzustellen, faßt er die Frage als an die übrige Familie gerichtet auf. Man kann auch sagen, daß die Frau hier bereits deutlich Übertragungsverhalten zeigt. Sie sucht den kompetenten Ratgeber im Therapeuten. Für diesen ist es im Moment wichtiger, sich zu überlegen, warum die Frau dies tut, als (geschmeichelt) darauf einzugehen. Seine Überlegung ist etwa, daß die Frau ihn um Rat fragt, weil sie sonst niemanden fragen kann (ihren Mann).

V: T sei anscheinend alles egal!

Daß der Mann sich hier unt eine eigene Stellungnahme drückt, indem er von seinem Sohn eine solche verlangt und ihr Fehlen bei diesem beklagt, könnte im obigen Sirm bedeuten, daß er tatsächlich nicht den überlegenen Ratgeber darstellt, den sich die Frau zu wünschen scheint.

T: Manchmal seien ihm die Aufgaben wirklich egal, jedenfalls nicht so wichtig wie den Eltern.

Th zu T: Wie denn so sein Tagesablauf aussehe?

Daß der Therapeut obiges Thema nicht weiterverfolgt, sondern etwas abrupt und zusammenhanglos ein eigenes Thema anschneidet, kann als unkontrollierte Gegenübertragung betrachtet werden. Das obige Thema hat die Familie bereits etwas erschreckt, da das Gespräch schon sehr rasch auf ein Dominanzproblem in der Familie zusteuerte. Der Therapeut spürte dies, d.h. erschrak selbst und lenkt ab, indem er etwas Neues anschneidet, das zwar von der Mutter bereits implizit angeschnitten wurde, dessen Einführung aber doch wohl eher auf eine emotionale Therapeutenreaktion zurückzuführen sein könnte.

T: So gegen halb drei komme er aus der Schule. Dann ruhe er sich etwas aus, fange mit Aufgaben an, werde manchmal nicht fertig, müsse warten, bis abends der V komme, weit M es nicht erklären könne. V sei abends dann oft wütend, auch M sei oft so ungeduldig.

M: Ihr tue er auch oft leid, wenn er früh nicht ausgeschlafen habe und in die Schule müsse.

Th: Also oft rege er sie auf, aber andererseits tue er ihr auch leid, weil er so viel lernen müsse?

M: Sie wolle, daß er später einen ordentlichen Beruf ergreife. Er müsste da aber schon jetzt mehr Verantwortung zeigen. Sie helfe ihm gern bei den Hausaufgaben, werde das aber bald nicht mehr können. Mengenlehre könne sie jetzt schon nicht mehr!

V: Aber T spiele meist mit Lego oder bastele Schiffchen!

Die Mutter bringt eines ihrer Hauptmotive gegenüber ihrem Sohn hier deutlich zum Ausdruck. Gleichzeitig spricht sie über die Deprivation dieses Hauptmotives durch Theodor, worin ihr der Vater beispringt.

M: Er beginne zu toben, wenn man ihn auf seine Pflichten, die er in seinem Alter doch auch schon habe, hinweise. Dann werfe er mit Ausdrücken um sich, daß man sich vor den Nachbarn schämen müsse.

T: Das stimme doch gar nicht!
V: Er werde das nächste Mal einTonbandlaufen lassen, um es ihm zu beweisen!

T: Ausdrücke sage er nur selten, einmal pro Woche vielleicht. Und die Nachbarn hörten davon nichts.

Auch hier - wie bisher und auch im folgenden - scheint Theodor wenig gehemmt, wenn es darum geht, sich gegen Anwürfe der Eltern zur Wehr zu setzen. Er scheint recht geübt, wenn es darum geht, seine Position zu behaupten.

Th: V scheine wütend zu sein, weil T zu wenig Respekt vor ihm habe. M scheine sich besonders auf den Ehrgeiz zu konzentrieren.

Hier versucht der Therapeut, die Hauptmotive beider Eltern in bezug auf Theodor zu verbalisieren. Alle drei -Vater, Mutter, Theodor- greifen aber im Folgenden dasMotiv der Mutter auf. Der Vater bringt etwas über die Geschichte des mütterlichen Hauptmotives. Ein erstes Dauermotiv wird angesprochen: die möglicherweise ausgeprägte Leistungsbereitschaft der Mutter und deren Deprivation in ihrer Kindheit.

M: Vielleicht sei sie selber zu ehrgeizig ... T bestätigt kopfnickend seine M.

V: Seine Frau konnte das Gymnasium nicht zu Ende machen, weil sie mit ihrer Familie nach Südamerika auswanderte. Da habe sie damals die 2. Klasse in Deutschland verlassen müssen und habe es in Südamerika nicht weitermachen können. Dem trauere sie heute noch nach.

M verbirgt das Gesicht in den Händen und weint. V bekommt auch feuchte Augen, versucht sie zu trösten. T und B beginnen eine Diskussion miteinander, wer die schwierigeren Hausaufgaben zu machen habe und wer sich dabei schwerer tue. Jeder meint, der andere tue sich schwerer. Beide ignorieren M.
M: Wenn T so fleißig wäre wie B, wäre alles kein Problem! Th zu T und B: Ob sie gemerkt hätten, dass M weinte?

Das Weinen der Mutter erscheint in diesem Moment noch unverständlich: weint sie aus Hilflosigkeit, weil der Vater einen "wunden Punke "berührte, aus Scham, eine Schwäche preisgeben zu müssen, trauert sie wirklich dieser lange verflossenen Geschichte nach? Auf jeden Fall zeigt hier ein Familienmitglied einen Affekt, der interessanterweise nur vom Vater registriert zu werden scheint. Gemäß der Grundregel, affektgeladene Themen wieder aufzugreifen, fragt der Therapeut die Kinder nach ihrer Stellungnahme hierzu. Beide scheinen ja den Affekt angestrengt übergehen zu wollen.

B: Ach, die M weine öfter.

T: Daran sei er schon gewöhnt. Das tue M ja nur, um die anderen einzuschüchtern. Wenn V heimkomme, habe sie auch immer was an den Kindern rumzumeckern.

V und M lachen etwas.

Theodor ist der Meinung, daß die Mutter das Weinen als Machtmittel einsetzt. Dasselbe unterschiebt er ihrem "Meckern".

T: Ob sie (M) sich an den Traum erinnere, den sie mal gehabt habe? Da habe ihr im Traum die Hand wehgetan, so habe sie ihn verprügelt.

Th zu M: Das habe sie einmal geträumt?

M: ja, aber vielleicht sollte man es mal in Wirklichkeit tun! Th: Sie scheine ihren Ärger oft herunterzuschlucken?

B: T weine sofort, wenn man ihn schlagen wolle.
T zu B, wütend: Sie weine ja auch gleich.
V: Die Kinder würden praktisch nie geschlagen.

T: Er habe auch mal einen Traum gehabt, da habe er vor der M davonrennen wollen, konnte aber seine Beine nicht bewegen.

Th: Er wollte wegrennen, weil er merke,wie wütend er die M manchmal mache.

Theodor erhellt hier etwas den Hintergrund des Weinens und der Enttäuschung der Mutter: er glaubt, sie sei sehr wütend über ihn. Die Mutter gesteht dies ein. Gleichzeitig wird deutlich, dass es für sie in der Realität wenig Möglichkeiten zu geben scheint, sich so gegen Theodor durchzusetzen, wie es ihr Traumwunsch zum Ausdruck bringt: das Mitleid (das sie vorher bereits einmal betonte) mit Theodor binden sie. Theodor seinerseits scheint wenig Skrupel bei dem Gedanken zu haben, dass seine Mutter so zornig über ihn ist. Ihm scheint sehr daran gelegen, als der Stärkere dazustehen. Auf seine Schwester reagiert er wütend, als sie eine Schwäche bei ihm betont. Der Therapeut versucht, bei Theodor etwaige Gewissensbisse anzusprechen. Beide hier berichtete Träume bringen starke Motive zum Ausdruck: die Mutter ist sehr zornig auf ihren Sohn, der Sohn hat Angst vor seiner Mutter. In der Realität sieht es allerdings anders aus: Die Mutter fordert Ehrgeiz, der Sohn versucht über die Mutter zu dominieren. Träume bringen in der Regel wichtige Dauermotive zum Ausdruck. Es kann vermutet werden, daß der Sohn im Traum der Mutter auch stellvertretend ist für Personen, auf die die Mutter einen ähnlichen Zorn hat, die aber früher in ihrem Leben eine Rolle spielten.

M: Sie selbst habe keine Möglichkeit gehabt, die höhere Schule zu absolvieren. T habe die Chance, nütze sie aber nicht, er kümmere sich jedenfalls ihrer Meinung nach zu wenig darum, und das mache ihr Sorgen.

T (seufzend): Wenn M doch bloß ihr Abitur gemacht hätte! Das wäre besser gewesen!

Hier wird deutlich, daß die Mutter in Identifikation mit ihrem Sohn spricht. Auf der einen Seite wünscht sie sich vielleicht, daß sie auf dem Umweg über Theodor doch noch das Abitur macht, auf der anderen Seite könnte sie aber auch aus einer Eifersuchtsreaktion heraus der Meinung sein, daß ihr Sohn es nie schaffen darf, da nur sie es geschafft hätte, wenn sie nur die Chance gehabt hätte. Theodor bringt seinen Wunsch zum Ausdruck, die Mutter möge ihn nicht länger als Gelegenheit betrachten, alte eigene unvollständig verzichtete Motive doch noch zu befriedigen.

V: Heutzutage stiegen die beruflichen Anforderungen dauernd, auch an die Uni komme man nicht mehr so leicht. Die Kinder müssten schon etwas leisten, damit ihnen später Möglichkeiten offen stünden.

Th: Ob er das auch in seinem Beruf sehe?

Der Therapeut sucht eine Gelegenheit, mehr über den Vater in Erfahrung zu bringen.

M: Die Kinder lebten heutzutage so sorgenfrei. Sie müssten langsam erkennen, daß man auch Pflichten habe.

Th: Sie kennen das aus eigener Erfahrung anders?

Der Therapeut versucht, mehr über die Geschichte der Eltern zu erfahren.

M: Sie seien als Kinder viel ernster gewesen. Die Zeiten seien härter gewesen.

V: Er sei Diplomingenieur, habe also auch studiert. Er sehe schon, daß es gut sei, etwas gelernt zu haben.
T (wütend): Er lerne doch!

V: Ob sich T an den letzten Urlaub in Jugoslawien erinnere? Da habe man doch gemerkt, wie gut es sei, Englisch zu können.

T: Nun solle er wohl auch noch jugoslawisch lernen?!

Die Mutter lässt durchblicken, daß sie sich und Theodor vergleicht, wobei ihre Kindheit schlechter wegkommt. Der Vater bringt einen Versuch, sich als Identifikationsfigur, als Vorbild, für seinen Sohn hinzustellen. Dieser reagiert aber mit Abwehr, worauf wieder ein kleiner Streit zwischen Vater und Sohn darüber entsteht, wer wem etwas zu sagen habe.
Th : Ob M noch etwas mehr über Südamerika erzählen wolle?

Der Therapeut versucht, mehr über ein ontogenetisch älteres Motiv der Mutter zu erfahren.

M: Sie sei damals 13 gewesen. Sie habe drüben in Südamerika in Chile auch Sprachschwierigkeiten gehabt. Ihre Eltern hätten nicht genug Geld gehabt, um beiden Kindern eine gute Ausbildung zu bezahlen. Sie habe da nur die Auswahl zwischen Bürokraft und Schneiderin als Berufe gehabt und sich fürs Büro entschieden. Sie habe als Kind gut und leicht gelernt, sie verstehe garnicht, daß dies bei T anders sei.

Th: Sie spreche von zwei Kindern früher?

M: Ja, ihr jüngerer Bruder, der habe studieren dürfen.

Mutter ist also die ältere Schwester eines jüngeren Bruders, der ihr etwas voraus hatte: er durfte studieren, für sie sei kein Geld da gewesen. Hierin scheint sich die größere Wertschätzung ihres Bruders durch ihre Eltern zu zeigen, der studieren durfte, nur weil er der Sohn war und nicht sie, die doch die Älteste war, aber leider nur das Mädchen! Bei diesem Thema ist der Vater indirekt mit angesprochen, denn er durfte auch studieren und war auch ein Sohn. Er macht denn auch einen schüchternen Versuch, sich zu verteidigen, indem er seiner Frau Neid zutraut, diesen Vorwurf aber sogleich wieder abschwächt. Hier hat der Therapeut die Annahme, daß ein Teil der Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn auch in einer Verschiebung der Auseinandersetzung zwischen Vater und Mutter einerseits und einer (noch älteren) Verschiebung der Auseinandersetzung der Mutter mit ihrem jüngeren Bruder andererseits liegen könnte.

B: Sie finde es gut, daß M früher nicht so viel in die Schule musste, da musste sie nicht so viel lernen.

T: Ihr (M) Bruder, ja der sei klug! (ironisch).
Th: Wieso der Bruder studiern durfte und nicht sie (M)?

M: Wegen des Geldes .. vielleicht, weil Männer eben öfter studieren. V zu M: Dies habe sie dem Bruder vielleicht etwas geneidet.

M: Auseinandersetzungen habe es darüber nie gegeben.

V: Sicher sei sie traurig gewesen, daß sie diese Chance, die ihr Bruder hatte, nicht hatte. Er wolle nicht sagen, sie habe es dem Bruder nicht gegönnt.

T: Das wäre ja noch schöner, wenn man dem Bruder was nicht gönnen würde!

Er könnte meinen: "Das wäre ja noch schöner, wenn eine Mutter ihrem Sohne was nicht gönnen würde", dies im Sinne der oben erwähnten Eifersucht.

M zu Th: Ob sie recht habe, wenn sie denke, es gäbe doch auch Kinder, denen das Spielen nicht so wichtig sei wie T, die ehrgeiziger seien?

Th: Da sei sie sich nicht sicher, ob sie das Richtige von T verlange. Wie sie denn selbst als Kind gewesen sei?

M: Sie erinnere sich nicht mehr genau an dieses Alter. Das sei noch in Deutschland gewesen
V: Bei ihm zu Hause seien geordnete Verhältnisse gewesen. Er sei mit 10 ins Gymnasium gegangen, später habe er Elektrotechnik studiert.

Der Vater scheint seiner Frau hier einen weiteren versteckten Vorwurf zu machen: bei ihr herrschten keine geordneten Verhältnisse, siehe die Umsiedlumg nach Südamerika.

Th: Ob er in seiner Familie als einziger studiert habe?

Der Therapeut macht einen erneuten Versuch, mehr über die Geschichte des Vaters zu erfahren. Diesmal zeigt sich, daß der Vater der jüngste Sohn von zwei älteren Schwestern war. Ähnlich also wie der Bruder in der Familie seiner Frau schien auch er auf Grund seines Geschlechts "ausersehen', Akademiker zu werden. Allein auf Grund seines Geschlechts dürfte er eine besondere Rolle in seiner Familie gespielt haben. Man kann sogar annehmen, dass seine Eltern sich überhaupt nur in der Hoffnung auf einen Sohn ein drittes Kind anschafften. Als er dann tatsächlich ein Sohn war, war die Freude groß. Ebenso wie der Bruder seiner Frau war er auch der jüngste von (einer) Schwester(n).

V: Ja, seine beiden älteren Schwestern wären etwas anderes geworden, wären damit aber nie unzufrieden gewesen.

Th: Wie seine Schulzeit verlaufen sei?

V: In der Unterprima habe man ihn einmal "sitzen" lassen. Damals habe er mit seiner Familie im Rheinland gewohnt. In den Fächern Mathematik, Physik und Chemie sei er immer der Beste gewesen, trotzdem sei er da einmal durchgefallen wegen schlechter Leistungen in Geschichte und Englisch. Das sei so in dem Alter gewesen, wo man die ersten Kontakte zum anderen Geschlecht, zur weiblichen Welt, hatte. Er sei den ganzen Tag auf dem Tennisplatz gewesen, habe die Schule vernachlässigt. Dann sei er aber rasch wieder zur Vernunft gekommen.

B: Wenn man gute Noten habe und länger auf die Schule gehe, verdiene man später mehr Geld.

V: Ja, aber wenn man rascher fertig werde, verdiene man noch schneller Geld, mehr, als man Taschengeld bekomme.

Th: Wie denn das letzte Zeugnis von T ausgesehen habe?

Der Therapeut versucht, einige Daten über den tatsächlichen Leisturgsstand von T zu erfahren.

T: Darüber könne man ruhig reden. Er habe meist überwiegend Dreier und Vierer, nichts Schlechteres, manches auch besser. V fragt einzelne Fächer ab, T weiss die Noten aber nicht mehr. M: In Erdkunde und Mathe habe er Vierer gehabt.

Th: Die Eltern kennen seine Noten besser als er selbst. M: Daran erkenne man seine Wurschtigkeit.

V: Wichtiger als die Noten finde er die Bemerkung, die im Zeugnis stand. B: Wann man denn nun endlich über sie sprechen könne?

M: Als Bemerkung habe da gestanden, dass sich T zu wenig am Unterricht beteilige und zu viel träume.

V zu T: Woran er da denke beim Träumen?

T: An nichts, weil er gar nicht träume, sondern sich nur nicht so oft melde. M: Es habe auch einmal was über sein Verhalten im Zeugnis gestanden.

V. Was?

T. Da sei er einmal mit dem Friedrich in der Schule über dieToilettentrennwand geklettert, da könne man prima klettern. Der Friedrich sei erwischt worden und er, T, sei eben dabei gewesen.

V (mahnend): ja, ja, Freundchen.

Th: Die Zeit sei für heute abgelaufen. Er habe sich heute einen ersten Eindruck verschaffen können über die Spannungen, die in ihrer Familie bestünden. M scheine besonders über den ihrer Meinung nach fehlenden Ehrgeiz bei T beunruhigt. V scheine bei T nicht viel Respekt zu finden. T habe sich viel verteidigt gegen die anderen. Über B habe man wenig gesprochen, sie habe sich vielleicht etwas gelangweilt am Schluss.

Der Therapeut bringt eine sehr einfache abschließende Zusammenfassung der von ihm beobachteten Hauptmotive in der Familie. Dabei betont er seinen Eindruck, dass Machtprobleme eine Rolle zu spielen scheinen.

Natürlich hätte er hier schon weiterführende Hypothesen und könnte einiges davon bereits formulieren. Aber im Zweifelsfall sagt er lieber weniger und ist sich dafür in der nächsten Sitzung sicherer.

V: Er müsse noch hinzufügen, dass T seinen Ärger oft an B auslasse. T: Das sei nicht wahr.

V: Doch, es stimme.

T. Seine Schwester ärgere ihn immer, sie pfeife zu Hause immer so frech herum. B: Sie dürfe genau so pfeifen wie er, denn sie habe die gleichen Rechte wie er. Th: In einigen weiteren Gesprächen könne man versuchen, die angeschnittenen Fragen weiterzuverfolgen. M. scheine sich für T's Zukunft Sorgen zu machen. T: Das müsse doch alles einen Grund haben!

M: Sie befürchte, T bekomme eines Tages die Quittung für sein jetziges Verhalten, wenn er seine Chancen nicht nütze.

Th schlägt neuen Termin vor.
T: Er hätte noch viele Ideen für Gespräche. Terminlich ginge es bei ihm besonders sonntags.
M: Sie lerne donnerstags Spanisch.
Nachdem ein Termin gefunden ist, verabschiedet sich der Therapeut von der Familie.

6.2. Diagnostische Auswertung
Bei Familie B. scheint es sich um eine im Ganzen recht unauffällige Mittelstandsfamilie zu handeln. Man kann sogar sagen, dass Familie B. in etwa der durchschnittlichen (modalen) Familie ähnelt, die sich in der Erlanger Erziehungsberatung anmeldet (s. BRACKMANN, 1974).

Zu den einzelnen Familienmitgliedern läßt sich folgendes sagen: Herr B. war in seiner Herkunftsfamilie der jüngste von zwei älteren Schwestern. Die Schule hat er allem Anschein nach ohne größere Schwierigkeiten durchlaufen. Mit 30 Jahren (wahrscheinlich nach abgeschlossener Berufsausbildung) heiratete er eine fünf Jahre jüngere Frau und bekam mit 31 sein erstes Kind, Theodor. In seiner Herkunftsfamilie könnte Herr B. allein auf Grund seines Geschlechtes eine besondere Rolle gespielt haben, ja man kann sogar annehmen, daß sich seine Eltern u. a. in der Hoffnung auf einen Sohn ein drittes Kind anschafften. Dieser Wunsch ging dann auch in Erfüllung. Im Gespräch gewinnt man den Eindruck, daß Herr B. seinem Sohn nicht immer überlegen zu sein scheint, sondern sich mit ihm öfter in kleinere Ränkeleien einlässt. Auch im Hinblick auf die Einführung neuer Themen und auf das Engagement im Gespräch scheint er eher im Fahrwasser seiner Frau zu schwimmen.

Frau B. war in ihrer Herkunftsfamille die Älteste eines jüngeren Bruders. Von diesem wissen wir, daß er studieren durfte, wovon man annehmen kann, daß Frau B. es auch gern getan hätte. Man darf annehmen, daß der Bruder studieren durfte, weil er der Mann war und dass Frau B., obgleich leistungsbereit und die Ältere, u. a. wegen ihres Geschlechtes dies nicht durfte. Mit 14 wurde die Schullaufbahn von Frau B. durch eine Umsiedlung ihrer Familie unterbrochen. Mit 25 heiratete sie ihren fünf Jahre älteren Mann und bekam mit 26 ihr erstes und mit 29 ihr zweites Kind. Es scheint sich um eine Neigungsehe gehandelt zu haben, jedenfalls keine Eheschließung allein wegen einer bestehenden Schwangerschaft. Im Gespräch scheint Frau B. deutlicher als ihr Mann engagiert und führend. Besonders über Theodor äußert sie Unzufriedenheit, speziell, was dessen Ehrgeiz in schulischen Leistungen anlangt.

Theodor, der Ältere einer jüngeren Schwester, scheint gegenüber den anderen Familienmitgliedern in einer deutlichen Verteidigungsposition zu stehen. Er versucht, sowohl über seine Mutter als auch über seine Schwester zu dominieren. Auch gegen seinen Vater scheint er sich zu wehren. Besonders im Umgang mit seiner Schwester scheint er etwas zu wiederholen, was er auch mit seiner Mutter tut. Man sieht hier noch nicht recht deutlich, ob er sein Verhalten in dieser Richtung vom Vater abgeschaut hat oder nicht.

Theodor wirkt intelligent und sprachlich geschickt, ebenso Babette. Diese, die jüngere eines älteren Bruders, scheint mit den Eltern weniger Probleme zu haben als ihr Bruder. Über sie äußern sich die Eltern zufrieden. Babette scheint aber auch manchmal zu versuchen, die dominante Stellung ihres Bruders zu attackieren, wahrscheinlich nach dem Vorbild der Mutter. Überhaupt scheint sie nicht ganz sicher, ob sie sich auf die Seite ihrer Mutter oder nicht auch auf die ihres Bruders oder ihres Vaters stellen soll. Man hat den Eindruck, sie versuche bisweilen zu vermitteln.

Familie B hat folgende Familienkonstellation: (ss)b/b(s)/s(b). Nach der Theorie der Familienkonstellationen (TOMAN, 1974) läßt sich danach folgendes sagen: Die Elternehe ist als günstig zu betrachten, sie ist völlig komplementär. Allerdings wird die Frau im Familienleben eher den Ton angeben als der Mann, worin sich Familie B vom allgemeinen Klischee, wonach der Mann "die Hosen" anzuhaben hat, unterscheidet. Obwohl dies für Herrn B. also im Grunde eine ideale Position ist, könnte er dennoch befürchten, dass Außenstehende ihn belächeln, weil er sich ihrer Meinung nach zu sehr seiner Frau unterordnet. Mit ihrer Kinderkonfiguration sind Herr und Frau B. allerdings vom "Schicksal" weniger gut bedient worden: eigentlich hätte zuerst Babette und dann Theodor kommen müssen. So aber haben Vater und Sohn einen ldentifikationskonflikt, auch Mutter und Tochter haben einen Identifikationskonflikt. Theordor kann sich, was seinen Rang betrifft, eher mit der Mutter als mit dem Vater identifizieren, Babette eher mit dem Vater als mit der Mutter. Theodor und seine Mutter haben einen Rangkonflikt, beide sind älteste Geschwister. Was Frau B. früher bei ihrem Bruder konnte (nämlich dominieren) und was ihr auch ihre Beziehung zum Mann ermöglicht, fällt ihr bei ihrem Sohn schwerer. Babette hat ebenfalls einen Rangkonflikt mit ihrem Vater. Der Vater sähe es nicht ungern, wenn Babette (so wie seine Schwestern früher und seine Ehefrau) über ihn und Theodor dominierte, dann könnte er sich auch leichter mit der Rolle seines Sohnes identifizieren. Babette soll aber nach Meinung ihres Bruders andererseits wieder sich dominieren lassen. Auch Frau B. sähe es gern, wenn Theodor "ins Glied" zurückträte, d.h. ihr die Vormachtstellung überließe. Dann müsste sie sich nicht mehr so stark mit ihrem Sohn identifizieren und würde ihrer Tochter die Identifikation mit ihr erleichtern.

Kompliziert wird die Familiensituation durch die Vermutung, daß Frau B. einen unvollständigen Motivverzicht in ihre Beziehung zum Mann und Sohn einbringt. Ihr Bruderscheint durch den Umstand, dass er studieren durfte, ihr als der älteren Schwester etwas von ihrer Vormachtstellung genommen zu haben. Möglicherweise wäre sie lieber der Sohn zu Hause gewesen, möglicherweise hatten sich ihre Eltern als erstes Kind einen Sohn gewünscht. Möglicherweise neidete sie ihrem Bruder tatsächlich die Chance, Erfolg im Studium zu haben und fühlte sich gekränkt und zurückgeblieben. Hierüber weiss man noch zu wenig nach der ersten Sitzung.

Verfolgt man aber dennoch diese Vermutung weiter, so wird deutlich, dass Frau B. in gewisser Weise auch in ihrem Mann ihren Bruder wiedererkennen könnte: auch dieser war möglicherweise allein durch sein Geschlecht bevorzugt, auch dieser konnte als einziger studieren, auch dieser war der jüngste. WäreTheodor nun ein Mädchen geworden, fiele es Frau B. wahrscheinlich leichter, in Identifikation mit dieser Tochter ihre früher deprivierten Erfolgswünsche nachträglich zu erfüllen. So aber kann ihre Beziebung zu Theodor eigentlich nur eine Mischung sein aus dem alten Neid auf ihren Bruder und den alten Wünschen nach eigenen Leistungserfolgen, die sie in Identifikation mit ihm erfüllen möchte. Dies gelingt ihr aber nicht, weil ihre Haltung deutlich aggressive Züge verrät,auf die Theodor einerseits mit Angst und andererseits mit hartnäckigen Versuchen reagiert, seine Dominanzstellung aufrechtzuerhalten. Er spürt, daß seineMutter am liebsten an seiner Stelle stünde, dass sie etwas gegen ihn zu haben scheint.

Bei seinen Versuchen, seine Stellung zu behaupten, wird Theodor indirekt wahrscheinlich vom Vater unterstützt: der Vater scheut die konfrontierende Auseinandersetzung mit seinem Sohn, er fügt sich eher immer wieder darein, daß sich Thomas von ihm nichts sagen läßt und selbst weiß, was er tut. Diese Haltung ist der Vater wahrscheinlich von den Erfahrungen mit seinen älteren Geschwistern her gewohnt. Für Theodor bedeutet dies aber, daß er tatsächlich oft tun und lassen kann, was er will, viel Widerstand bietet der Vater nicht. Andererseits fehlt ihm damit aber auf die Dauer ein orientierender Halt, erwird notgedrungen seine oft bestehende Hilflosigkeit und seine Identifikationswünsche mit dem Vater durch eine betont zur Schau getragene Oberlegenheit kompensieren.

Die Frage, warum Theodor das Problemkind in der Familie B. verkörpert und nicht Babette, ließe sich also folgendermaßen beantworten: Theodor bekommt mehr Konflikte zu spüren als Babette. Neben einem Rangkonflikt mit der Mutter und einem Identifikationskonflikt mit dem Vater (was bei Babette identisch ist, nur auf den jeweils anderen Elternteil bezogen), wiederholt seine Mutter einen unvollständigen Motivverzicht bei ihm, und dies bei ihm, weil er ein Junge ist, wie es ihr Bruder auch war, bei dem der Motivverzicht nötig wurde. Der Umgang von Frau B. mit ihrem Sohn hat damit auch den Charakter einer Versuchungssituation.

Zusammenfassung der wichtigsten Haupt- und Dauermotive:
Frau B, möchte, daß Theodor die Chance nutzt, die er ihrer Meinung nach hat, und ehrgeiziger, leistungsbereiter wird. Dies möchte sie u.a. deshalb, weil sie selbst diese Chance nicht hatte und über Theodor noch nachträglich "auf die Schule gehen" möchte. Ihr Bruder hatte diese Chance ebenfalls, was sie ihm unter Umständen bis heute nicht verziehen hat. Dies aktualisiert Theodor in ihr immer wieder aufs neue. Ähnlich wird es ihr bei ihrem Mann ergehen oder ergangen sein, denn das Problem hat sich auf Theodor verschoben. Eines ihrer Dauermetive könnte heißen: "Ich bin die Tüchtigste und ihr (ihr Bruder, ihr Mann, ihr Sohn) habt euch zu fügen!"

Herr B. möchte anscheinend, daß sein Sohn mehr Respekt vor ihm hat, andererseits möchte ervielleicht gar nicht so gern in Situationen mit seinem Sohn geraten, in denener sich Respekt verschaffen müßte. Als Vorbild f ür seinen Sohn fühlt er sich etwas hilflos. Sein Dauermotiv könnte lauten: "Ihr (seine Frau, sein Sohn, seine Schwestern und Eltern) werdet schon wissen, was ihr zu tun habt, auch ohne mich." Oder: "Mein Sohn soll fügsamer sein, dann fühle ich mich nicht dauernd aufgefordert, mir Respekt zu verschaffen."

Was Theodor betrifft, so könnte dessen Dauermotiz. B. heißen:"lch möchte es meinen Eltern so gern recht machen, besonders der Mutter, aber sie ist immer so wütend über mich."

6.3 Therapieziele und -strategie
Ausgehend von den Hauptmotiven sollten in weiteren fünf Gesprächen die oben umrissenen Dauermotive herausgearbeitet werden (und geprüft werden). Damit bekäme Frau B. Gelegenheit, ausführlich über ihren Bruder und ihre eigene Leistungssituation in ihrer Herkunftsfarmlie zu sprechen und eine Verbindung zu finden zu ihrer momentanen familiären Situation. Aus dieser Einsicht heraus könnte sie eigene unvollständige Wünsche, die sie auf Theodor projiziert, wiedererkennen und in Zukunft effektiver erfüllen, z. B. indem sie neben ihrer Hausfrauentätigkeit noch eine Arbeit oder einen Lemstoff aufnimmt. Sie könnte dann auch mit ihrem Mann überlegen, wie dieser sich etwas besser als "Vater" einbringen könnte. Herr B, bekäme Gelegenheit, über seine diesbezügliche Rolle nachzudenken und sich vom Sohn und der Frau einiges sagen zu lassen.

Wenn er sich besonders in kritischen Situationen zwischen Mutter und Sohn etwas überlegener zeigen könnte, wenn er die Schulsituation seines Sohnes etwas mehr als die eigene erkennen könnte, dann wäre Frau B. etwas stärker freigestellt. Sie wird ihren Mann aber deutlicher als bisher bitten müssen, sich konkret mit Theodor auseinanderzusetzen.