Erziehungs- und Familienberatung im Wandel von Gesellschaft und Familie

von Bernd Sacknieß



Angebote aus dem Leistungsbereich Erziehungs- und Familienberatung werden überwiegend von Eltern nachgefragt, denn "hinter den Problemen der Kinder verbergen sich meist sehr konkrete Probleme in den Familien, die mit neuen Situationen, Krisen und Konflikten zu kämpfen haben" (Kurz-Adam 1995). Oft geschieht dies auf dem Hintergrund negativer und traumatischer Erlebnisse aus ihrer Lebensgeschichte.

'Die Erziehungsaufgaben sind für die Eltern nicht leichter geworden. Die persönlichen Probleme haben zugenommen. In unserer hektischen Zeit Partnerschaft, Ehe, Beruf, Kindererziehung und Freizeit stressfrei unter einen Hut zu bekommen - das kann ganz schön schwierig seinn (Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz, Broschüre des BMFJ, 1991).

Bei den zurückliegenden und aktuellen Belastungen der Familien handelt es sich nicht nur um Trennung und Scheidung, Alleinerziehung und Fortsetzungs- bzw. Stieffamilien, sondern häufig auch um lebensbedrohliche Krankheiten, Tod, Misshandlungen, materielle und berufliche Probleme einschließlich Arbeitslosigkeit, soziale Isolierung u.v.m.

Neben der herkömmlichen Familie (Mutter, Vater, leibliche Kinder) gibt es zunehmend andere Famillenformen wie z.B. Ein-Eltern-Familien, Stiefeltemfamilien, Adoptiv- und Pflegefamilien, Lebensgemeinschaften nichtverheirateter Erwachsener mit Kindern. Diese Pluralisierung von Familienformen (H. Scheuerer-Englisch 1995, H. Stierlin 1996) geht häufig einher mit dem Verlust von Bezugspersonen und mit Umgebungswechseln.

Zu den individuellen Krisen von/in Familien kommt also der gesellschaftliche strukturelle Wandel hinzu, der von jedem Einzelnen, insbesondere von der jetzigen Elterngeneration eine Orientierungsleistung fordert, auf die kaum jemand vorbereitet ist. Für sie und auch für uns sind die Karten der Lebenslandschaft teilweise nicht auf dem neuesten Stand, sondern bedürfen gemeinsamer Überarbeitung.

Erziehung ist somit auch durch die Veränderung der Normen, Werte und Rollen unserer Gesellschaft schwieriger geworden. Die traditionellen Sozialgefüge mit Großfamilie oder funktionierender Nachbarschaft sind kaum noch vorhanden oder nur wenig belastbar. Die Kinder wachsen in kleineren Familien auf, z.T. sind beide Eltern berufstätig. Eltern sind verunsichert, was Kindern heute zusteht, welche Freiräume sie brauchen, wann, wo und wie welche Grenzen zu setzen sind.

Der hier nur grob skizzierte Wandel von Gesellschaft und Familie drückt sich in der Erziehungs- und Familienberatung z.B. derart aus, daß diejenigen Eltern seltener werden, die von uns "nur' eine Veränderung ihres Kindes erwarten. Häufiger als in der Vergangenheit kommen Eltern, um erst einmal ihr eigenes Leid zu klagen, sich zu entlasten, nachdem sie entweder bisher nirgends Gehör fanden oder sich angesichts der hohen Erwartungen an sie sich nicht getrauten, ihre Schwierigkeiten anderen mitzuteilen. Es sind mehr oder weniger irritierte, sich hilflos fühlende Eltern, die nicht selten mit der gleichzeitigen Bewältigung von mehreren, z.T. schweren und langdauemden Belastungen (Ehekrisen, Trennung, Scheidung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, niedriges Einkommen) überfordert werden (sog. Multiproblemfamilien).

Auswirkungen dieser gesellschaftlichen und familiären Entwicklung zeigen sich natürlich auch bei den Jugendlichen, die sich z.T. unabhängig von ihren Eltern bei uns anmelden. "Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht", stellt die 12. Shell-Jugendstudie 1997 fest. Die Jugendlichen gehen auf Distanz zu ihren Eltern und zu den Repräsentanten unserer Gesellschaft - wie Generationen vor ihnen das getan haben. Sie suchen aber offensichtlich weniger die Konfrontation mit der Elterngeneration, sondern entwickeln ihre Perspektiven z.T. sehr individuell und flexibel. Zu uns kommen allerdings eher diejenigen Jugendlichen, deren Familien oder sie selber mit den Veränderungen oder der schwer berechenbaren Zukunftsplanung kaum zurechtkommen und mit Ängsten, depressiven Verstimmungen, Aggressionen oder Suchtverhalten reagieren.

Angesichts des gesellschaftlichen Wandels bedeuten die Angebote der Erziehungs- und Famillenberatung, daß in der konkreten Beratung von Eltern und Familien verlorengegangene Erziehungskompetenzen und Rer,
sourcen wieder entwickelt werden können. Neue Rollen und Werte können auf den Prüfstand gehoben
und eigene Haltungen und Handlungsgrundlagen für Eltern, Kinder und Jugendliche erarbeitet werden;
Famillenberatung und Famillentherapie das Kind vor emotionaler Oberforderung und vor traumatischen Beziehungserfahrungen schützen(zurückliegende aufarbeiten, d. Verf,) und persönliches Wachstum für alle
beteiligten Personen in ihren spezifischen Beziehungsstrukturen ermöglichen soll" (Scheuerer und Eng
lisch, 1995);in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie traumatische primäre Beziehungserfahrungen auf
gearbeitet, soziale Fähigkeiten entwickelt und die Akzeptanz/Bewältigung von Lebensrealitäten gefördert werden.

Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit einem Satz H. Stierlins: "Schauen wir nur etwas genauer auf das Heute, sollte uns auch das, was morgen geschieht, nicht zu sehr aus der Fassung bringen" (Stierlin 1996).

 

Literatur:

Kurz-Adam, M./Post, I: (Hrsg.): Erziehungsberatung und Wandel der Familie (S. 228). Leske u. Buderich, Opladen 1995.

Scheuerer-Englisch, H .: Die Aufgaben der Erziehungsberatung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und sozialer Veränderungsprozesse. In: Informationen für Erziehungsberatungsstellen, BkfE, Fürth 1995.

Stierlin, H.: Familie und Familientherapie heute und morgen. In: Kretz, H. (Hrsg.): Lebendige Psychohygiene. Eberhard, München 1996.