Hans-Reinhard Schmidt

Familien- und/oder Kindertherapie?
Ein Beitrag zur Differentialindikation in multiprofessionellen Teams

1. Zur Fragestellung

In etwa 1000 deutschen Erziehungs- und Familienberatungsstellen werden ständig Entscheidungen getroffen, mit welchem Beratungs- und Psychotherapieverfahren den Klienten gehoffen werden soll. Eine dieser differentiellen Indikationsstellungen betrifft regelmäßig die Frage, ob man dem Anliegen eines Klienten mit Familientherapie oder mit Kinder- und Jugendlichentherapie gerecht werden kann. Die Frage der differentiellen Indikation von Familientherapie versus Kindertherapie ist nicht zuletzt von ökonomischer Bedeutung, denn Kinder- und Jugendlichentherapien sind in der Regel Therapien von mittlerer und langer Dauer, also relativ teuer, während Familientherapie eine besondere Form der Kurzpsychotherapie genannt werden darf und deshalb kostengünstiger ist. Eine kürzere Therapie wäre einer gleicheffektiven längeren aber auch aus ethischen Gesichtspunkten grundsätzlich vorzuziehen, weil dem Klienten einfach schneller geholfen würde.

In den euphorischen Anfängen der Familientherapie in Deutschland erlagen nicht wenige Familientherapeuten ihren Omnipotenzvorstellungen und glaubten, alle anderen Psychotherapieverfahren seien nunmehr überholt und ad acta zu legen. Die Praktiker der Erziehungsberatungsstellen waren gegen solche Extrempositionen dank ihrer multiprofessionellen Teams immer besser gefeit als manch andere. Von jeher bestanden sie darauf, daß in ihren Teams auch Kindertherapeuten vertreten sein müssen, die ohnedies eine längere Tradition in Erziehungsberatungsstellen haben als Familientherapeuten. Andererseits haben viele Kindertherapeuten den Einzug der Familientherapie in die Beratungsstellen mit Sorge betrachtet, die sich aber in den letzten 10 Jahren im Zuge der familientherapeutischen Ernüchterung weitgehend gelegt zu haben scheint. Ein wechselseitiger Anpassungsprozeß zwischen Familienund Kindertherapeuten fand inzwischen statt, nachdem die Familientherapie allerdings für wesentliche strukturelle Veränderungen in den Erziehungsberatungsstellen gesorgt hatte, u.a. für den starken Abbau von Wartezeiten dadurch, daß sie den Anteil von Langzeit-Kindertherapien und diagnostischen Testuntersuchungen erheblich reduzieren half (GERLICHER 1977).

Familientherapie und Kindertherapie unterscheiden sich nicht zuletzt in ihrem setting: während in der klassischen Familientherapie in Erziehungsberatungsstellen die gesamte Kernfamilie oder die Eltern mit dem Indexpatienten (ein Kind oder ein Jugendlicher) oder die Eltern ohne Kinder in den Sitzungen anwesend sind und darüberhinaus kein Familienmitglied noch eine Einzel-oder Gruppentherapie hat, erhält in der Kindertherapie der Indexpatient (ein Kind oder ein Jugendlicher) meist Einzeltherapiestunden, während die Eltern in größeren Abständen (z.B. auf vier Kindersitzungen kommt eine Elternsitzung) mitberaten werden.

Selbst, wenn die Klienten ausdrücklich nach einer Familientherapie oder einer Kindertherapie verlangen, ist die Indikation damit noch keineswegs gestellt, auch wenn wohl in manchen Beratungsstellen so verfahren Mrd. Die ausdrückliche Wahl einer bestimmten Psychotherapieform durch die Klienten kann nämlich durchaus einer Abwehr entspringen und Veränderungen verhindern ("dissolution", GUNTERN 1983). Wir wollen zunächst nachsehen, was die klinisch-psychotherapeutische Forschung zur differentiellen Indikationsstellung erbracht hat.

 

2. Differentielle Psychotherapie-Indikation. Forschungsstand

Daß Psychotherapie wirksam ist, gilt heute als allgemein anerkannter Forschungsbefund (z.B. SMITH, GLASS&MILLER, GRAWE). Ob es aber Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den verschiedenen Psychotherapien gibt oder nicht, ist noch nicht klar. Die viel zitierte Obersichtsarbeit von LUBORSKY, SINGER&LUBORSKY von 1975 kommt zum Ergebnis, daß alle Psychotherapieformen zu vergleichbaren positiven Effekten gelangen (die Autoren benannten dieses Ergebnis nach Alice im Wunderland "Dodo-Verdikf': "Everyone has won and all must have prizes"). GRAWE widerspricht der weit verbreiteten Ansicht, daß dieses Verdikt als wissenschaftlich gesichert betrachtet werden kann, heftig und mit guten Belegen. Er begründet das Gegenteil, daß es nämlich durchaus bedeutsame Differenzen zwischen verschiedenen Psychotherapiemethoden und ihrer jeweiligen Effektivität bei unterschiedlichen Störungen bzw. Patienten gibt (GRAWE 1994). Ohne dies hier im Einzelnen begründen zu können (der Leser möge sich durch intensives Literaturstudium sein eigenes Bild machen), schließe ich mich dieser Grundsatzposition GRAWES im Wesentlichen an.

Effektivitätsnachweise liegen inzwischen sowohl für Familientherapie als auch für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie vor. Die Mitberatung der Eltern ist heute integraler Bestandteil der Kinder- und Jugendlichentherapie (was nicht von Anfang an so war: Melanie KLEIN schloß die Eltern noch ausdrücklich aus dem psychoanalytischen Prozeß als Störfaktor aus, was erst Anna FREUD änderte). Dieses Nebeneinander von analytischer Kinderbehandlung und eher pädagogischer Elternmitberatung wurde von der Familientherapie aber in Zweifel gezogen, weil dabei übersehen werde, daß es in der weiteren Familie auch Bestrebungen gibt, die Pathologie des Indexpatienten aufrechtzuerhalten. Diese meist unbewußten Bestrebungen, die das kindertherapeutische setting möglicherweise noch unterstützt, müssen im therapeutischen Gesamtkontext mitbehandelt werden, wie es eben in der Familientherapie geschieht, (z.B. BAURIEDL 1986, BAETHGE 1981, BERNS 1986, HEEKERENS 1989)

Was wissen wir nun aber über die differentielle Indikation von Familien- versus Kindertherapie? Wie überhaupt in der Psychotherapieforschung sieht es hier recht düster aus! Mir ist nur eine einzige methodisch saubere Untersuchung bekannt, die auch GRAWE hervorhebt, nämlich die von SZAPOCZNIK et.al., in der die strukturelle Familientherapie von MINUCHIN mit psychodynamischer Einzel-Kinderpsychotherapie verglichen wurde. Beide Therapien kamen kurzfristig beim Indexpatienten zu etwa gleich positiven Verbesserungen, längerfristig entwickelten sich allerdings die Familienbeziehungen bei den familientherapeutisch behandelten Kindern positiv, während sie bei den nur einzeltherapeutisch behandelten ins Negative umschlugen, sodaßdieGesamthilanzfürdieFamilientherapiepositiverausfiel. Weiterliefertdiese Untersuchung Hinweise darauf, daß für eine langfristige Symptomverbesserung beim Indexpatienten eine die Familientherapie ergänzende Einzeltherapie bessere Wirkung zu erzielen scheint als eine Familientherapie allein (nach GRAWE lffl).

Diese Untersuchung liefert also Hinweise darauf, daß Familientherapie bei der allgemeinen Indikationsstellung Priorität vor Kindertherapie haben sollte und letztere im Zusammenhang mit einer Familientherapie anzusetzen wäre, also nicht ohne begleitende Familientherapie, eine Position, die auch SCHMIDTCHEN in seiner klientenzentrierten Spiel- und Familientherapie vertritt, nachdem er vorher viele Jahre lang Kinderspieltherapie ohne Familientherapie propagiert hatte (SCHMIDTCHEN 1987). Die Untersuchung von SZAPOCZNIK erlaubt allerdings keine Aussage über Indikation bzw. Kontraindikation einer im Rahmen einer Familientherapie anzusetzenden Kindertherapie. Wenn wir solche (Kontra-)Indikationen aber mit GRAWE u.a. grundsätzlich annehmen, dann stellt sich die Alternative Familien- oder Kindertherapie gar nicht. Sie müßte umgedacht werden in:

Familientherapie mit oder ohne Kindertherapie ?

Da Familientherapie selbst nicht immer indiziert ist, müssen wir auch für sie Indikationskriterien haben. Auch Kindertherapie ist nicht immer indiziert, auch für sie müssen Indikationskriterien empirisch gefunden vmrden. Sollte man demnach Kindertherapie, soweit sie überhaupt indiziert ist, nur noch in Kombination mit Famiiientherapie ansetzen? Sind kindbezogene therapeutisch-pädagogische Maßnahmen ohne gleichzeitige Mitberatung der Eltern oder ohne Familientherapie generell ineffektiv? Die praktische Erfahrung in den Erziehungsberatungsstellen zeigt, daß es durchaus Indikationen für das klassische Kinder- und Jugendlichen-Therapiesetting gibt. Die Behandlung und Erziehung von Kindern nahezu ohne Einbezug der Herkunftsfamilie, wie sie in Heimeinrichtungen, Dauerpflegefamilien oder auch durch qualifizierte Laienhelfer (GERLICHER 1978) stattfindet, ist ebenfalls nicht ineffektiv und für die betreffenden Kinder eine wesentliche EntwicIdungshilfe, wäre aber sicher noch effektiver und weniger aufwendig, wenn die Herkunftsfamilie mitbehandelbar wäre. Die Verhältnisse sind in diesen Fällen leider oft nicht so, daß die Herkunftsfamilie greifbar, motiviert oder überhaupt vorhanden wäre. Wir müssen also unsere Frage noch einmal umformulieren, diesmal so:

Wir müssen feststellen, daß Forschungsbefunde zur Beantwortung dieser für die Praxis so wichtigen differentiellen Indikationsfrage fehlen. Es werden zwar einige Indikations- kataloge sowohl zur Familientherapie (z.B. BOMMERT1 990, FEIERFEIL 1985, TOMAN 1979) als auch zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie angeboten, aber eben nichts zur differentiellen Indikaton, wie sie die Praxis unserer Erziehungsberatung verlangt. Dennoch wird die Frage in der Praxis ständig beantwortet.

3. "Operationalismus" in der Psychotherapieforschung

Angesichts dieses allgemein unbefriedigenden wissenschaftstheoretischen Zustandes der Psychotherapie empfiehlt TOMAN, bei der Praxis der Psychotherapie selbst anzusetzen, genau hinzusehen, was erfahrene Psychotherapeuten tatsächlich tun. Wie Praktiker dabei vorgehen, könnte für die Psychotherapieforschung einewichtige, heute noch weitgehend übersehene Erfahrungsquelle sein. Die Übereinstimmung von Therapeuten verschiedener Schulen ist in der Praxis viel größer, als ihre unterschiedlichen Lehrmeinungen und theoretischen Ausbildungskonzepte nahelegen. Dieser operationale Ansatz ist nach TOMANs Ansicht ein besserer Weg zu einer zukünftigen "Integrativen Psychotherapie" als irgendwelche "am grünen Tisch" konstruierten Konzepte. Besonders die schulenübergreifende Intervision, wie sie vor allem in Erziehungsberatungsstellen geschieht, verwirklicht diesen fruchtbaren Weg des "Operationalismus" in der Psychotherapie (TOMAN, 1994, 1996). Dieser Empfehlung folgend fragen wir, was in multiprofessionellen Teams genau geschieht, wenn es um die differentielle Indikation von Familien- versus Kindertherapie und damit auch um Fortschritte in Richtung einer Intergrativen Psychotherapie geht.

4. Teamentwicklung

Dabei sieht man, daß der "Reifegrad" eines solchen Teams umso höher ist, je weniger ein Gast des Teams die ursprünglichen, unterschiedlichen Psychotherapieausbildungen der Teammitglieder erkennen kann. Im Laufe der Teamentwicklung haben sich immer mehr gemeinsame Grundpositionen und Vorgehensweisen herausgebildet, die keinen direkten Rückschluß mehr auf irgendeine der vertretenen Grundausbildungen und Psychotherapieschulen zulassen.

Die Therapeuten sind über ihre "reinen Lehren" hinausgewachsen. Sie haben eine Form der integrativen Psychotherapie entwickelt. Der Familientherapeut hat gelernt, die Möglichkeit einer Kindertherapie mitzudenken, der Kindertherapeut umgekehrt, und ihre Auffassungen, wann was zu tun ist, sind meistens kongruent. Wenn Psychotherapieforscher solche Formen integrativer Psychotherapie aus möglichst vielen solcher entwickelten Teams sammeln und wiederum integrieren helfen könnten, käme man auf dem Wege der Entwicklung einer Allgemeinen Integrativen Psychotherapie einen wesentlichen Schritt voran.

In einem jungen oder wenig entwickelten Team aber stehen die Schulen unvereinbar nebeneinander. Ob ein Klient kinderoder familientherapeutisch behandelt wird, hängt oft vom Zufall ab, z.B. davon, ob er von der Sekretärin der chronolgischen Anmeidungsreihenfolge entsprechend einem Kinder- oder einem Familientherapeuten zugeteilt wird, oder ob er von anderer Stelle bereits mit einer 'lertigen" Indikationsstellung an den Kinder- oder Familientherapeuten delegiert wird, oder ob die Indikationsstellurig allein von Kostenerstattungen der Krankenkassen abhängig gemacht wird. Der Therapeut stellt die Indikation allein aufgrund seiner schulischen Lehrmeinung oder irgendwelcher anderer Kriterien, nicht aber aufgrund einer Teamintervision. In einem solchen weniger entwickelten Team spielen außerdem ökonomisch-wirtschaftliche Gesichtspunkte bei der Indikationsstellung kaum eine Rolle.

5. Wirtschaftlichkeit und differentlelle Indlikation

Kundenorientierung und Wirtschaftlichkeit in Erziehungsberatungsstellen sind relativ neue Aspekte, die aber nichtsdestoweniger in Zukunft immer mehr auch bei der Indikationsstellung eine Rolle spielen müssen. Wenn wir von gleichen Therapieeffekten ausgingen, müßten wir Kindertherapie in aus Steuermitteln finanzierten Erziehungsberatungsstellen schon aus Kostengründen (von den langen Wartezeiten ganz abgesehen) abschaffen, weil sie aufgrund ihrer Länge teurer ist als eine Familientherapie (auf die der Kunde auch nicht so lange warten muß). Wenn wir davon ausgehen, daß Kinder- bzw. Familientherapie unterschiedliche Effekte bei unterschiedlichen Klienten aufweisen (und davon gehe ich, wie gesagt, mit GRAWE aus), dann muß die differentielle Indikation für eine Kindertherapie auch aus diesem Kostenargument heraus sehr sorgfältig und sparsam getroffen werden. In Zeiten der Geldknappheit wird Kindertherapie sonst leicht zu einem u.U. entbehrlichen "Luxusangebot'der Erziehungsberatungsstellen.

Unter wirtschaftlichen Aspekten bedeutet unsere oben formulierte differentielle Indikationsfrage nämlich, daß Familientherapie allein relativ am kostengünstigsten, Kindertherapie teurer, Familientherapie kombiniert mit Kindertherapie aber am teuersten ist.

Solche durchaus realistischen Kostenargumente, mit denen sich die Fachleute in Beratungsstellen in Zukunft noch stärker auseinandersetzen müssen, können von politischer oder Trägerseite leicht dazu herangezogen werden, das Angebot der Beratungsstelle fachlich zu verringern, "billiger'und schlechter zu machen. Genau um dem entgegenwirken zu können, muß die differentielle Indikationsfrage in den Teams gelöst sein. Wartelisten der Kindertherapeuten, mit deren Hilfe der Bedarf begründet wird, reichen allein nicht aus.

6. Grundregeln der differentiellen Indikationsstellung

Verschiedene Teams können verschiedene Regeln als Grundlage einer differentiellen Indikationsstellung für die Frage, ob Familientherapie mit oder ohne Kindertherapie oder eine Kindertherapie alleine stattfinden soll, finden. Die folgenden Grundregeln stellen 2bg solche Möglichkeit dar, eine Groborientierung für das Team zu haben, an der sich die Einzelfallindikationssteilung ausrichten kann. Sie gelten für multiprofessionelle Teams in Erziehungsberatungsstellen, die nicht rein systemisch denken (s. 7.):

Regel 1: Wenn nach Erkenntnis sowohl der Therapeuten als auch der Familie Beziehungsschwierigkeiten in der Gesamtfamilie oder in elterlichen Subsystemen überwiegend die Probleme des Indexpatienten bedingen oder aufrechterhalten, soll einer Familientherapie ohne Kindertherapie erste Priorität zukommen. Das Bewußtsein hierfür muß bei der Familie nicht von Anfang an bestehen, es muß aber begründeter Anlaß dafür gegeben sein, daß der Versuch, der Familie bzw. dem elterlichen Subsystem zu dieser Erkenntnis zu verhelfen, gelingen kann.

Regel 2: Wenn es nicht gelingt oder gelingen kann, die Familie oder ein elterliches Subsystem zur Familientherapie zu motivieren, wenn ein Jugendlicher oder junger Erwachsener ohne seine Familie behandelt werden soll oder wenn die Familie real nicht zur Verfügung steht oder gar nicht existiert, hat Kinder- und Jugendlichentherapie ohne Familientherapie erste Priorität. Die Möglichkeit einer späteren Einbeziehung der Familie sollte immer offengehalten werden.

Regel 3: Wenn eine FamiNentherapie bzw. Therapie eines elterlichen Subsystems ohne FGnder- und Jugendlichentherapie nicht die erhofften Verbesserungen für den Indexpatienten erbringt, soll eine Therapie des Indexpatienten (hier: Kinder- und Jugendlichentherapie) zusätzlich stattfinden. Mehrere Subsysteme der Familie erhalten dann kooperierende Therapie im Rahmen eines jeweils eigenen settings.

Solche Groborieritierungen geben den Rahmen ab für vielfältige feinere Überlegungen, wie sie in der Intervision im Team im Einzelfall anstehen, wie z.B.:

Dieser Fragenkatalog ist von Team zu Team erweiter- oder kürzbar, je nach Team-Entwicklungsstand. Auf keine der darin aufgeworfenen Fragen kann uns die psychotherapeutische Forschung bisher schlüssige Antworten geben, meist hat sich meines Wissens überhaupt noch kein Forscher jemals mit auch nur einer davon beschäftigt.

7. Das systemische Team

HALEY´s konsequent systemische Position besagt, daß die Indikationsfrage in der Familientherapie gar nicht zu stellen sei, weil Familientherapie keine andere Therapie, sondern eine andere Sichtweise sei, aus der heraus jede Therapie irgendwie Familentherapie sei (HALEY 1977). Aus dieser Sicht entpuppt sich die Alternative Kinder- oder Familientherapie als Scheinproblem. Wenn das gesamte Team systemisch denkt, sind setting-Fragen zweit- oder drittrangig. Ob ich nur mit einer Mutter spreche oder Spielstunden mit einem Kind habe, hängt eher davon ab, wo ich eine Familie "abholen" will oder kann, und nicht so sehr von irgendwelchen theoretischen indikationskriterien. Die Kindertherapie in einem solchen Team wäre denn auch eine andere als die klassische: sie wäre wohl eine Kurztherapie mit dem Ziel der Veränderung von Familienstrukturen bzw. -beziehungen. Sie wäre nicht wegen irgendwelcher differentiellen Indikationsstellungen, sondern wegen ihrer besonderen, für manche Familien besonders leicht zu akzeptierenden Zugangsmöglichkeit zu familiären Hintergrundstrukturen sinnvoll. Der so denkende Kindertherapeut wäre im Grunde ein auf einen besonderen Familienzugang spezialisierter Familientherapeut. Von seiner klassischen Grundausbildung her bringt er heute noch fast keinerlei Rüstzeug für eine solche Weiterentwicklung mit.

 

8. Also Intervision. Es gibt viel zu tun

Mit TOMAN möchte ich verlangen: schulenübergreifende Intervision muß insgesamt intensiviert werden, vor allem außerhalb von Erziehungsberatungsstellen, wo man schon relativ viel Übung darin hat (TOMAN 1996). In den Teams unserer Erziehungsberatungsstellen sollte darüber reflektiert werden, in welchem TeamEntwicklungsstand man sich hinsichtlich des Zieles auf eine Integrative Psychotherapie befindet. Die Antwort auf unsere Ausgangsfrage Yinder-oder Familientherapie'Iiegt derzeitnochalleinin denHändenderFachleuteinIntervision, und erst in Zukunft in den Händen der Forschung, die die Intervisionsergebnisse entwickelter Teams auswertet.

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Literatur:

  1. Bommert, H., Henning, Th., Wälte, D. (1990): Indikation zur Familientherapie. Kohlhammer, Stuttgart.
  2. Feierfeil, R. Geppert, J. (1985): Indikation in der Familientherapie. In: Klug, H.-P., Specht, Fr. (Hrsg.): Psychosomatische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen.
  3. Gerlicher, K., Bebber, G., Stockhammer, M. (1979): Laienhelfer in der Erziehungsberatung. Beltz, Weinheim&Basel
  4. Gerlicher, K. (1977): Familientherapie in der Praxis der Städt. Jugend- und Familienberatung Erlangen. Bericht über den Versuch einer Neuorientierung in der Erziehungsberatung. In: Gerlicher, K., Brackmann, S., Neuhäuser, G., Schmidt, H.-R., Stockhammer, M., Toman, W.: Familientherapie in der Erziehungsberatung. Beltz, Weinheim&Basel.
  5. Grawe, K. (1982): Indikation in der Psychotherapie. In. Bastine, R., Fiedler, P., Grawe, K., Schmidtchen, S. (Hrsg.): Grundbegriffe der Psychotherapie. Weinheim.
  6. Grawe, K. (1982): Soll psychotherapeutische Praxis für die Wissenschaft tabu bleiben? Psychologische Rundschau XXXIII.
  7. Grawe, K., Donati, R., Bemauer, F. (1994): Psychotherapie im Wandel. Hogrefe, Göttingen.
  8. Guntern, G. (1983): Systemtherapie. In: Schneider, K. (Hrsg.): Familientherapie in der Sicht psychotherapeutischer Schulen. Junfermann, Paderborn.
  9. Heekerens: Erziehungsberatung und Familientherapie. Asanger, Heidelberg.
  10. Haley, J. (1977): Direktive Familientherapie. Pfeiffer, München.
  11. Schmidtchen, S. (1980): Probleme einer Indikation und Integration psychotherapeutischer Verfahren. In: Schmidtchen, S., Baumgärtel, F. (Hrsg.): Methoden der Kinderpsychotherapie. Stuttgart.
  12. Schmidtchen, S. 1980): Indikation in der Kinderpsychotherapie. In: Schulz, W., Hautzinger, M. (Hrsg.): Klinische Psychologie und Psychotherapie. Kongreßbericht Berlin 1980. Tübingen, Köln.
  13. Schmidtchen, S. (1996, 4. Aufl.): Klientenzentrierte Kindertherapie und Familientherapie. Psychologie-Verlags-Union.
    Szapocznik, J., Perez-Vidal, A., Brickman, A., Foote, F., Scopetta, M., Rivas-Vazquez, A., Hervis, 0., Posada, V. & Kurtines, W. (1989): Structural familiy versus psychodynamic child therapy for problematic hispanic boys. Journal of Consulting and Clinical Psychology 57, 571-578.
  14. Toman, W. (1979): Familientherapie. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt.
  15. Tornan, W. (lffl): "Operationalism" in psychotherapy: A possible means of putting a sorry state of theory in better order? Contemporary Family Therapy 16(3).
  16. Toman, W. (1996): Psychotherapeutische Intervision: Ihre Bedeutung und günstige Form. In: H. Kretz (Hrsg.): Lebendige Psychohygiene. Eberhard, München.