KONFERENZ  ADHS
Pressemitteilung

 

 

Ich lerne wie ein Zombie. Plädoyer für das Abschaffen von ADHS

 

Eine repräsentative Umfrage, die das Sozialforschungsinstitut Forsa im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“ unternahm, erbrachte ein erschreckendes Ergebnis: Auf die Frage: „Von welchen gesundheitlichen Störungen fürchten Sie am meisten, dass Ihr Kind sie bekommen könnte?“ nannten mit Abstand die meisten Eltern – nämlich 44 Prozent – das Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts)-Syndrom  AD(H)S  (Eltern 2009). So weit ist es inzwischen mit der völlig unbegründeten Verunsicherung, ja Verängstigung von Eltern in Bezug auf die Modekrankheit ADHS also schon gekommen! Verunsicherte, verängstigte Eltern sind natürlich schlechtere Erzieher, so dass man befürchten muss, die geschürte Angst vor ADHS zieht Erziehungsfehler nach sich, die wiederum in „ADHS“ münden können. Die Katze beißt sich sozusagen in den eigenen Schwanz, eine klassische sich selbst erfüllende Prophezeiung. Was ist zu tun?

 

Der Psychotherapeut Hans Reinhard Schmidt unterzieht nun das Konstrukt ADHS in einem Buch, das dieser Tage bei Centaurus erschienen ist, einer radikalen Kritik. Er kommt zum Ergebnis, dass die Konstruktion dieser Krankheit mehr Unheil als Segen mit sich bringt und abgeschafft bzw. überwunden werden sollte.

 

Eltern tun gut daran, eine ADHS-Diagnose zu bezweifeln

 

Dieser Rat, den Hüther und Bonney in ihrem Bestseller „Neues vom Zappelphilipp“ geben (Hüther 2008),  ist keineswegs provozierend gemeint, betont der Autor. Vielmehr macht er sehr viel Sinn, wenn man immer wieder hört, erlebt und liest, dass Eltern unzufrieden sind, wenn bei ihrem Kind diese Diagnose trotz eingehender Untersuchung NICHT gestellt wird. Die gegenwärtige populäre "Fachliteratur", die Ratschläge in einschlägigen Internet-Selbsthilfegruppen und die im Bekanntenkreis erlebte "hilfreiche" Ritalin-Wirkung verleiten viele besorgte Eltern zu vorschnellen Selbstdiagnosen und zur Pseudosicherheit, ihr Kind habe diese "Krankheit" auch. In den Sammeltopf "ADHS" passt offenbar fast alles, was Kinder, Jugendliche und Erwachsene an Verhaltensschwierigkeiten zeigen.

Wenn Eltern ihre Probleme in den einschlägigen Internetforen schildern, habe man noch selten gelesen, dass ihnen jemand sagt, ihre Probleme könnten alles Mögliche bedeuten, viel wahrscheinlicher den Ausdruck von Beziehungsschwierigkeiten, als eine angebliche Hirnfunktionsstörung, betont Schmidt. Stattdessen rate man ihnen fast durchweg, gezielt "ADHS" ärztlich abklären zu lassen, die Adresse eines passenden Arztes wird gleich nachgeliefert. Es handele sich dann meistens um einen Arzt, von dem sich herum-gesprochen habe, dass er die Diagnose ADHS gern und häufig stellt. Man warnt die Eltern häufig sogar, zu einem anderen Fachmann zu gehen, der ADHS womöglich kritisch gegenübersteht. Solch ein Arzt oder Psychologe sei dann ganz einfach für ADHS inkompetent, wird gerne verbreitet.  

 

Man wisse aber, stellt Schmidt heraus, dass Diagnosen nicht immer valide und zuverlässig, sondern stark diagnostikerabhängig sind, gerade bei so sehr unklaren "Krankheitsbildern" wie ADHS. Ob ich zu einem Psychoanalytiker, einem kritischen oder unkritischen Psychologen oder einem von ADHS überzeugten Arzt gehe, entscheidet über die Diagnose. Und  Eltern wählen durch ihre bewusste Diagnostiker-Auswahl auch die erwartete bzw. gewünschte Diagnose. Im Sinne von "selbsterfüllenden Prophezeiungen" schließt sich dann jeweils der Kreis, und alle scheinen zufrieden.

 

Dabei ist die Diagnose „ADHS“ außerordentlich unzuverlässig. Ein eindeutiger biologischer bzw. morphopathologischer Marker für die angebliche Krankheit ADHS existiert nicht, sonst hätte man ja die Probleme mit der unzuverlässigen und vieldeutigen, rein klinischen Verhaltensdiagnostik nicht. Nach wie vor gibt es keinen spezifischen ADHS-Test, weder einen psychologischen, noch einen medizinischen.

 

Angesichts des sicher großen Ausmaßes an Falschdiagnosen, angesichts der Unzulänglichkeit des diagnostischen Instrumentariums für ADHS, angesichts der gravierenden stigmatisierenden psychosozialen Langzeitfolgen der Diagnose vor allem für Kinder (angeblich genetisch bedingte, vererbbare Hirnstoffwechselstörung) und der ungewissen Langzeitauswirkungen der verabreichten Psychopharmaka bei kleinen Kindern, angesichts der in Wirklichkeit fehlenden wissenschaftlichen Klarheit des Syndroms ADHS hätten Eltern zunächst einmal allen Grund, an dieser Diagnose zu zweifeln.

Ganz abgesehen davon, dass es sowieso keine wissenschaftlich objektivierte, valide und unbestrittene ADHS-Diagnostik gibt, entsprechen die meisten Diagnosen nicht einmal dem Mindeststandard der ärztlichen Diagnoserichtlinien. Aus einer Arbeit von Angold geht hervor, dass 75%  der Kinder, die mit Stimulanzien behandelt werden, die nach DSM-IV notwendigen diagnostischen Kriterien für ADHS überhaupt nicht erfüllten. Fast 60 % der Diagnosen waren ganz einfach falsch (Angold 2000; Lehmkuhl 2002). Betrachtet man die Fülle von möglichen Differentialdiagnosen, wird rasch deutlich, warum so oft ungenau diagnostiziert wird: Genannt werden in den Diagnosemanualen als Ausschlusskriterien tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Störung des Sozialverhaltens, Anfallskrankheiten, Anpassungsreaktionen auf außerordentlich belastende familiäre Verhältnisse oder schulische Überforderung, emotionale Störungen wie Angststörung, agitierte Depression, affektive Störungen. Würden diese Krankheitsbilder stets sorgfältig ausgesondert, so würde vermutlich eine Zahl von 1-2% von „ADHS“-Diagnosen übrigbleiben.

Was bei dieser Diagnostik aber zuverlässig und valide gemessen wird, weiß im Grunde niemand. Wird eine medizinische Krankheit gemessen, oder nur mehr oder weniger normale Verhaltensvariationen oder allbekannte psychoreaktive Verhaltensstörungen unter-schiedlichster Ursache? Wenn drei Fachleute über ADHS sprechen, meint wahrscheinlich jeder von ihnen etwas anderes. Angesichts solch unglaublicher diagnostischer und thera-peutischer Missstände, unter denen viele Kinder oft jahrelang mit Psychostimulanzien behandelt werden,  erübrigt sich die Frage nach der Aussagekraft vieler ADHS-Studien, die auf solch willkürlicher Diagnostik aufbauen.

 

Schmidt, Hans-Reinhard: Ich lerne wie ein Zombie. Plädoyer für das Abschaffen von ADHS. Centaurus 2010, 320 Seiten, 16.80 Euro.