Dipl.-Psych. Hans-Reinhard Schmidt
ADHS-Vorbeugung im Säuglingsalter
Viele Eltern von sog.
"ADS-Kindern" berichten, dass ihre Kinder bereits im
Säuglingsalter, praktisch von Geburt an, ja manchmal bereits im
Mutterleib, besonders unruhig und "nervenaufreibend"
waren. Viele Fachleute machen darauf aufmerksam, dass der
richtige Umgang mit solchen anstrengenden Babies für eine
"ADS"-Vorbeugung ausschlaggebend sein kann.
Wenn es den Eltern gelingt, sich optimal auf das
"schwierige" Baby einzustellen, verschwinden die
Symptome nicht nur rascher, es können auch Langzeitfolgen
belasteter Eltern-Kind-Beziehungen (und eben auch
"ADS") vermieden werden. Hier im Café Holunder hat
besonders Hüther darauf hingewiesen.
Das exzessive Schreien der sog. "Schreibabies" stellt
für jede Familie eine extreme seelische Belastungsprobe dar,
zumal oft noch Schlafprobleme des Babies und andere
Verhaltensprobleme hinzu kommen. Man schätzt, dass bis zu jedes
dritte Baby in seinen ersten drei Lebensmonaten unter solchen
mehr oder weniger ausgeprägten Unruhezuständen (intensives
Schreien, Quengeln, Unruhe, Schlafstörungen, Gedeihstörungen,
Essstörungen, Koliken, Kontaktstörungen etc.) leidet. Wenn ein
Baby über mehrere Monate hinweg viele Stunden täglich schreit,
bemühen sich die verzweifelten Eltern intensiv, die Ursache zu
finden und Abhilfe zu schaffen. Und wenn das nicht gelingt (was
häufig berichtet wird), werden die intuitiven
Verhaltensbereitschaften der Eltern ermatten, und Ohnmachts- bzw.
Wutgefühle stellen sich ein. Übrigens sind viele Eltern über
die Intensität der Wutgefühle, die bei ihnen gegenüber ihrem
"nervenden" Baby entstehen können, zutiefst
erschreckt. Sie reagieren dann mit starken Schuldgefühlen, die
zusätzlich die Beziehungsgestaltung zum Baby negativ färben.
Viele solche geplagten Eltern zeigen ein seelisches
Erschöpfungssyndrom, sie verhalten sich immer ignorierender und
abgestumpfter, manchmal sind sie in Gefahr, emotional
"durchzudrehen": Exzessives Schreien im Kleinkindalter
ist nachgewiesenermaßen die häufigste Ursache für körperliche
Misshandlung von Kindern.
Die interdisziplinäre Säuglingsforschung geht davon aus, dass
bei solchen Babies Reifungsverzögerungen und postpartale
Anpassungsstörungen im Sinne einer reifungsbedingten
Verhaltensregulationsstörung vorliegen. Die Babies können
innere Biorhythmen wie den Schlaf-Wach-Rhythmus noch wenig
steuern, haben Gleichgewichts- und andere reifungsabhängige
Wahrnehmungsstörungen. Die Fähigkeit zum Tiefschlaf ist z.B. an
Reifungsvorgänge des Gehirns gekoppelt, die bei diesen Babies
noch "unfertig" sind. Eltern solcher Babies berichten,
dass es ihnen schwerfällt, die Signale ihres Kindes richtig zu
lesen und einzuschätzen, um verstehen zu können, was das Kind
braucht oder will. Das Risiko einer frühen Bindungsstörung
zwischen Eltern und Säugling ist also in diesen Fällen
erheblich vergrößert. Wenn Eltern aber intuitiv oder mit Hilfe
von Fachleuten lernen, sich an die Babies anzupassen, reifen die
Babies rasch nach und holen ihre Reifungsverzögerungen ohne
gravierendere frühe Beziehungsstörungen problemlos auf.
Ich bin der Ansicht, dass dieser Anpassungsprozess bei vielen der
derzeit als "ADS" diagnostizierten Kinder im
Kleinkindalter nicht optimal gelungen ist. Einer meiner eigenen
Söhne war selbst ein (milder starkes) Schreibaby. Die
Zusammenarbeit mit meiner Frau in dieser belastenden Zeit war
sehr wichtig, beide Eltern sind dabei gefragt (was bei einer
alleinerziehenden Mutter mit einem Schreibaby leider allein auf
der Mutter lastet). Bald hatten wir herausgefunden, dass unser
Söhnchen immer dann, wenn ich ihn mir über die Schulter legte,
mit ihm fröhlich herumspazierte, ihm was vorsang und ihm bunte
Dinge zeigte, sofort sehr aufmerksam und gut gelaunt wurde. Das
tat ich dann täglich ausgiebig (am Wochenende stundenlang), bis
nach einigen Monaten alles vorbei war. Ich habe ihn bei diesen
Spaziergängen besonders lieben gelernt, weil wir uns dabei
wirklich sehr intensiv miteinander vergnügt haben. Er ist heute
erwachsen und ein ausgeglichener, fröhlicher und erfolgreicher
Student. "Gelassenheit" ist deshalb ja auch die
wichtigste Eigenschaft, die Eltern eines Schreibabies bewahren
können müssen, damit sich nicht eine Eskalation der Gereiztheit
zwischen Eltern und Baby aufschaukelt.
Wenn Eltern diese "Gelassenheit" nicht mehr alleine
herstellen können, sollten sie sich unbedingt professionell
helfen lassen. In den immer häufigeren
"Schreiambulanzen" finden sie dann Unterstützung,
Austausch und kompetente fachliche Hilfe. Aber auch in den
meisten Frühförderzentren, in vielen Erziehungsberatungsstellen
und Sozialpädiatrischen Zentren gibt es Fachleute für Eltern
mit Schreibabies. Hier können die Weichen frühzeitig so
gestellt werden, dass die Babies ungestört
"nachreifen" und glückliche Kinder, Jugendliche und
Erwachsene werden.
Ohne "ADHS".