Dipl.-Psych. Hans-Reinhard Schmidt

9 Anmerkungen zum sexuellen Kindesmißbrauch

1. Unter sexuellem Mißbrauch versteht man die Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder und Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie deren Tragweite noch nicht erfassen (zit. Engfer, 1995).
Dabei gibt es unterschiedliche Altersgrenzen, die sich in den strafrechtlichen
Bestimmungen finden lassen: Der Strafrechtsbestand des sexuellen Mißbrauchs an Kindern (§176 StGB) bezieht sich auf Kinder bis zum 14. Lebensjahr, §174 (sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) zieht die Grenze bei 16, §180 (Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger) bei 18 Jahren. Inzest, also Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten, (§173 StGB), ist an gar keine Altersbeschränkung geknüpft. Je nachdem, wo man die Altersgrenze ansetzt, welche Definition man zugrunde legt und welche Daten wie und an wem erhoben werden, liefern Untersuchungen unterschiedliche Zahlen über Häufigkeit und Ausmaß des sexuellen Kindesmissbrauchs.

2. Nicht nur Männer missbrauchen Kinder sexuell, auch Frauen. Das Verhältnis von Männern zu Frauen unter den Tätern wird auf 85:15 geschätzt. Neueren Studien zufolge sind bis zu 45 Prozent der Täter männliche Jugendliche unter 18 Jahren. Man schlägt deshalb auch vor, eine Altersdifferenz von mindestens 5 Jahren zwischen Opfer und Täter zu vereinbaren, wenn von sexuellem Kindesmissbrauch im engeren Sinne gesprochen wird. Damit wird nicht geleugnet, daß sexueller Missbrauch zwischen fast gleichaltrigen Kindern oder Jugendlichen traumatisierend sein kann, ebensowenig der Gedanke, daß Sexualität zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Mann nicht von Vorneherein Missbrauch sein muß.

3. Im aktuellen Diskurs gibt es drei Erscheinungsformen des sexuellen Missbrauchs:

3.1 denjenigen in der öffentlichen Meinung, im Fernsehen, in den Medien: Hier wird er gleichgesetzt mit dem inzestuösen, gewaltsamen und oft jahrelangen Beischlaf von Familienangehörigen (Vätern, Stiefvätern, Großvätern) mit ihren Töchtern. Sexueller Missbrauch erscheint hier als sehr schwerwiegende Wiederholungstat;

3.2 denjenigen nach §176 (Sexueller Kindesmissbrauch): Hier werden pro Jahr alle Fälle kriminalpolizeilich erfasst, in denen ermittelt wurde. Die hier ermittelten Delikte sind nicht gleichzusetzen mit den lnzestfällen nach §173, über die die Kriminalstatistik gar keine Angaben macht, weil sie so selten sind;

3.3. denjenigen in sozialwissenschaftlichen Studien und Dunkelfeldschätzungen. Hier werden oft recht großzügig und nicht ideologiefrei alle möglichen Situationen und Handlungen unter den Begriff des sexuellen Missbrauch subsumiert, und entsprechend extrem voneinander abweichend sind die Untersuchungsergebnisse, ganz abgesehen von der Frage der Repräsentativität der jeweiligen Stichproben. Klinische Studien sagen allgemein kaum etwas Zuverlässiges über die Verhältnisse in der Gesamtbevölkerung.

4. Zur Häufigkeit läßt sich aufgrund der kriminalpolizeilichen Statistik für die BRD sagen, daß im Jahr 1965 17 630 Ermittlungsverfahren nach §176 StGB registriert waren, die bis 1985 stetig absanken bis auf 10 417 Fälle. Seither ist die Zahl wieder langsam gestiegen bis auf 14 440 Fälle für die alten bzw. auf 16 442 Fälle inklusive der neuen Bundesländer. Diese Zahlen lassen aber keinen Schluss zu, daß sexueller Missbrauch jeweils zu- oder abgenommen hat. Eine sensibilisierte Öffentlichkeit zeigt vielleicht nur vermehrt an.
Eine genauere Analyse der Täter-Opfer-Beziehungen dieser Ermittlungsfälle zeigt, daß nur etwa 25 Prozent der verdächtigen Täter Verwandte oder Bekannte der Kinder waren ("Väter, Stiefväter oder im Hause mit dem Kind zusammenlebende Männer"). Die Statistik erlaubt nicht, zwischen diesen Tätertypen zu unterscheiden. Sexueller Kindesmissbrauch im Sinne eines lnzests, also Geschlechtsverkehr zwischen Vater und Tochter, fanden amerikanische Untersucher in 2-3 Prozent aller Mißbrauchsfälle, in der deutschen Untersuchung von Bange waren es 1,9 Prozent aller Fälle.
Die meisten Täter (ca. 70 %) entstammen dem sozialen Nahraum der Kinder (Nachbarn, Lehrer, Erzieher, Babysitter, Bekannte). Sexualmorde an Kindern werden fast ausschließlich von völlig fremden Tätern begangen, der kleinsten Tätergruppe von ca. 6 Prozent. Die Vermutung ist erlaubt, daß mit absinkendem Verwandtschaftsgrad die Missbrauchswahrscheinlichkeit steigt, völlig fremde Täter ausgenommen. Bezieht man Fremdtäter mit ein, ist die Vermutung erlaubt, daß mit abnehmendem Verwandtschafts- und Bekanntheitsgrad das Ausmaß an Gewalt beim sexuellen Missbrauch zunimmt.
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen liefern für die BRD Ergebnisse wie die von Eiliger u. Schötensack, wonach von 1018 befragten Würzburger Schülern eine Prävalenzrate von 9,7 Prozent für Mädchen bis zum 14. Lebensjahr und eine Rate von 3,9 Prozent für Jungen gefunden wurde. Bange befragte Studenten der Uni Dortmund und fand bei etwa 13 Prozent der Frauen schwere Missbrauchserfahrungen in der Kindheit, bei den Männern lag der Anteil interessanterweise sogar noch etwas höher.
In ausländischen, vor allem nordamerikanischen Untersuchungen ergeben sich Prävalenzraten von 6 bis 62 Prozent für Frauen, 3 bis 30 Prozent für Männer. Da kann man nur sagen: Nichts genaues weiß man nicht.

5. Mit Dunkelfeldschätzungen ist es dasselbe. Baurmann empfahl für sexuellen Missbrauch nach §176 ein Verhältnis von 1:5, für Inzest nach §173 StGB 1:20. Interessierte Kreise haben diese Schätzung von 1:20, die, wie gesagt, nur für klassischen Inzest gelten sollte, auf alle Fälle, also auch auf diejenigen des §176, verallgemeinert, was unzulässig ist, und sind so auf 300 000 Fälle pro Jahr in Deutschland gekommen. Diese Zahl hat inzwischen den Wert einer Metapher ähnlich derjenigen der 11000 Jungfrauen, die mit der Hl. Ursula zogen und vor Köln umgebracht worden sein sollen. Der Deutsche Kinderschutzbund schätzt dagegen unter Zugrundelegung des 1:5-Verhältnisses 80 000 Fälle pro Jahr. Das hieße, daß etwa 1 Prozent aller unserer bis 15 Jahre alten Mädchen pro Jahr sexuell mißbraucht würden, bei Zugrundelegung der Zahl 300 000 wären es 4 Prozent. Diese Zahlen zeigen, daß sexueller Missbrauch ein ernst zu nehmendes Problem darstellt; es besteht aber andererseits kein Anlaß für Panikmache oder Ubertreibungen.

6. Neuere nordamerikanische Studien schätzen das Verhältnis von Mädchen und Jungen als Opfer sexuellen Missbrauchs auf 2:1 bis 4:1. Der Missbrauch von Jungen wurde erst spät thematisiert, seine Dunkelziffer ist wahrscheinlich höher als diejenige bei Mädchen. Jungen werden häufiger außerfamiliär und häufiger von nur wenig älteren Jugendlichen missbraucht. Sie sind zum Zeitpunkt des Missbrauchs oft jünger als die Mädchen, sie erleiden häufiger körperliche Gewalt. Besonders farbige Unterschichtjungen sind gefährdet (in den USA).
Das Missbrauchsrisiko bei behinderten Kindern scheint ebenfalls erhöht. Vor allem sind Kinder gefährdet, die -schichtunabhängig- in gestörten Familien aufwachsen (Alkohol- u. Drogenmissbrauch, emotionale Vernachlässigung und Verwahrlosung, Gewalt etc.). Zwischen missbrauchten Kindern und ihren Eltern fand man häufig chronisch gestörte Beziehungen.

7. Die Täterforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Dies behindert die Entwicklung täterorientierter lnterventions- und Präventionskonzepte. Klar ist aber, daß Väter unter den Tätern weitaus seltener sind als vielfach behauptet. Klar ist, daß die meisten (etwa 2/3) bekannt werdenden Missbrauchsfälle Einmaldelikte sind, und daß nur in denjenigen Fällen, in denen Kinder innerhalb der Familie von Angehörigen missbraucht werden, der sexuelle Missbrauch häufiger, aber nicht immer, eine Wiederholungstat ist.
Der sexuelle Mißbrauch, vor allem derjenige durch Familienangehörige, ist nicht immer mit körperlicher Gewalt verbunden, sondern oft mit emotionaler Zuwendungsstrategie –und erpressung von seiten des Täters. Androhung oder Ausübung massiver körperlicher oder psychischer Gewalt kommt dreimal so oft bei außerfamiliären Tätern vor wie bei Familienangehörigen.

8. Was die Folgen sexuellen Missbrauchs bei Kindern anlangt, so gibt es keine eindeutigen körperlichen und/oder psychischen Symptome, ebensowenig ein "Syndrom des sexuellen Missbrauchs". Eines der schwierigsten Probleme bei der Diagnostik des sexuellen Missbrauchs liegt in unserem geringen Wissen über die normale sexuelle Entwicklung der Kinder und ihres sexuellen Wissens. Diagnostische Hilfsmittel wie Kinderzeichnungen, anatomisch korrekte Puppen etc. sind so schwierig und nicht-eindeutig, daß ihr Einsatz nur in die Hände wirklich kritischer und verantwortungsbewußter, gut geschulter Fachleute gehört.
Die zuverlässigste Quelle für die Feststellung sexuellen Mißbrauchs sind nach wie vor die spontanen Berichte der Kinder selbst. Unsachgemäßer Umgang mit diesen oft mehrdeutigen Berichten (wie suggestive, verhörähnliche Befragungen durch abwechselnde, fremde Befragungspersonen, oder Ignorieren der Berichte) führt nicht selten dazu, daß realer Miss- brauch übersehen wird (falsch negative Fälle) oder nicht-realer Missbrauch zur Realität hochstilisiert wird (falsch positive Fälle). Im Einzelfall muss bei der Aufdeckung sorgfältig abgewogen werden, daß unsachgemäße Umstände bei der Aufdeckung dem Kind einen zusätzlichen oder sogar größeren Schaden zufügen können als der infragestehende Missbrauch selbst.
Da sexueller Missbrauch häufig konfundiert ist mit anderen, oft chronischen familiären und psychosozialen Belastungen, ist es nicht leicht, prognostisch oder rückblickend anzugeben, welche Langzeitauswirkungen er hat. Es gibt Formen des sexuellen Missbrauchs, denen keine Langzeitschäden folgen (Exhibitionismus, eher harmlose Berührungen, einmaliges Sehen von Sexfilmen werden hier genannt). Es kommt überhaupt immer auf das familiäre und soziale Umfeld und die Vorgeschichte des Kindes an, vor deren Hintergrund die Auswirkungen des Missbrauchs unterschiedlich ausfallen.
Chronischer innerfamiliärer, inzestuöser und gewaltsamer sexueller Mißbrauch wird allgemein als der schädlichste betrachtet. Da er aber in ohnedies chronisch defekten Familien passiert, ist auch hier nicht leicht zu entscheiden, welchen genauen Anteil der Missbrauch für sich genommen an den oft lebenslangen psychischen Beeinträchtigungen und Neurotisierungen solcher Mädchen und Frauen hat.

9. Kindorientierte curriculare Präventionsmaßnahmen haben sich in umfangreichen amerikanischen Untersuchungen als wenig bis gar nicht effektiv erwiesen. Kinder im 4. Lebensjahr, die an solchen Maßnahmen teilgenommen hatten, waren hinterher offenbar verwirrt und wussten weniger über Sexualität als Kinder, die nicht teilgenommen hatten. Ältere Kinder hatten einen geringen Wissensvorsprung, waren aber nicht besser vor Missbrauch geschützt . Wenn sie gelernt hatten "Nein" zu sagen und sich zu wehren, erlitten sie häufiger körperliche Gewalt und Verletzung als nicht-trainierte Kinder. Diese Programme scheinen Kinder insgesamt zu überfordern.
Prävention muß stattdessen an der Familie ansetzen und die Eltern und Kinder gemeinsam stärken. Alles, was das Leben unserer Familien verbessert, beugt auch dem Missbrauch vor. Auf keinen Fall darf man Eltern irrationale Ängste machen, wie es beim öffentlichen Umgang mit dem sexuellen Missbrauch leider vielfach geschieht. Es sei nur an Schlagzeilen erinnert wie "Alle 3 Sekunden wird bei uns ein Kind missbraucht" (BILD), "Väter als Täter" oder Behauptungen wie die, daß jedes 3. Mädchen missbraucht wird oder an jeder Schule mindestens ein sog. "grenzüberschreitender" Lehrer sei. Angst ist ein schlechter Erzieher und für Prävention untauglich.
Täterorientierte Prävention muß wesentlich besser erforscht und finanziert werden. Dazu gehören nicht nur längere Haftstrafen oder bessere Uberwachung potentieller Rückfal ltäter, sondern auch qualifizierte sozialrehabilitative, sozialtherapeutische Konzepte, vor allem bezogen auf jugendliche Täter.

 

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März 1997